Das Wiederfinden der Balance

Sonja M. Winkler

von Sonja M. Winkler

Story
Wien


Die Kette der Zufallstreffen reißt nicht ab. Wir wären uns nicht begegnet, wenn ich in Linz die Westbahn genommen hätte und in Hütteldorf ausgestiegen wäre. Ich aber nahm den RJ bis Wien Meidling. Und da steht er auf dem Bahnsteig. C., wie er leibt und lebt. Lange nicht gesehen. Unsere Blicke treffen sich, er grinst übers ganze Gesicht und breitet seine Arme aus. Wir fallen uns um den Hals und stehen eine Zeitlang so da, aneinandergeschmiegt. Links und rechts gehen Menschen an uns vorbei.

Bist auf dem Heimweg, frag ich ihn. – Ja. Das Zimmer im 13. Bezirk, das habe er aufgegeben. Er arbeite hauptsächlich im Homeoffice, von Oberösterreich aus. Ich weiß, dass er vor Jahren eine Wohnung in einem revitalisierten Bauernhof erworben hat, in der Nähe von Steyr. Gibt’s die Gisela noch in deinem Leben, frag ich ihn. – Ja, er komme grad von ihr, sagt er. Er sei zwei Tage in Wien gewesen.

Über zehn Jahre muss es her sein, dass wir uns zum ersten Mal begegnet sind. Es war bei den „Healing Songs“ im „Horizonte“. Jeden Donnerstag sangen wir Mantren und Earth Songs. C. griff oft zum Tamburin und schlug den Rhythmus. Irgendwann kam er dann zu Biodanza, und wir sahen uns jede Woche. Er hat wie ich im Mai Geburtstag. Wir gingen ein paarmal zum Griechen ums Eck. Er bewohnte damals ein Zimmer in einem Haus mit Garten, fünf Gehminuten von mir. Nur der Wienfluss trennte uns. Die Vermieterin war eine vielbeschäftigte Univ. Prof., die sich oft im Ausland aufhielt. C. konnte dann schalten und walten, wie er wollte. Jeden Sommer gab’s ein Grillfest. Im Juni 2014 machte ich einen Vermerk in meinem Kalender: Gartenparty, Gisela kennengelernt. Natürlich wusste ich allerhand über Gisela, his long-term girlfriend. Es gab eine Zeit, da listete C. immer wieder Pro und Kontra der Beziehung auf. Bleiben oder gehen? Nach diesem Gartenfest, bei dem ich mit Gisela ins Gespräch kam, nahm ich C.s Trennungsabsichten nicht mehr ernst. Gisela, so fand ich, war eine attraktive Frau, alleinerziehend mit Sohn. Sie arbeitete bei der UNO als Fremdsprachenkorrespondentin. 2014 war sie gerade dabei, die DaF-Ausbildung abzuschließen.

C. ist geschieden und Vater zweier Töchter, ein Vorzeigevater, jetzt stolzer Opa. Drei Jahre ist die Katastrophe nun her. Der Verlobte seiner hochschwangeren Tochter war tödlich verunglückt. Das teilte mir C. damals telefonisch mit. Seine Stimme bebte. Nun müsse er, wenn das Kind dann da ist, sagte er, als Bezugsperson einspringen, ja, ganz sicher, er werde seiner Tochter zur Seite stehen.

C. ist ein Computer-Experte. Er hat mich beim Kauf meines Laptops beraten, er setzte ihn auf und schloss den Drucker an. Bei dieser Gelegenheit kam es zu Zärtlichkeiten, nur das eine Mal. Ist auch Jahre her. Ich sehe uns beide auf meinem rückenschonenden Balans-Stuhl sitzen. Dann muss bei C. die Balance gekippt sein. Vielleicht auch bei mir. Er packte mich. Zog mich auf seinen Schoß. Küsste mich. Der Bildschirm flimmerte.

Aber jetzt, als sein Zug einfährt, sagt er, hoffentlich finden wir bald einmal Zeit für ein Treffen.

© Sonja M. Winkler 2023-05-25

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