Das Wissen der Menschheit in einem Buch

Anne Michel

von Anne Michel

Story

Seit ich zum ersten Mal in meinem Leben ein Lexikon in der Hand hatte, war mir klar, dass ich so ein kostbares Buch unbedingt haben möchte! Ich war bei einer Klassenkameradin zu Besuch. Da sie wusste, wie verrückt ich nach Büchern war, präsentierte sie mir voller Stolz die umfangreiche Büchersammlung ihres Vaters. Beeindruckt von der enormen Sammlung las ich die Buchtitel und die Namen der Autoren laut vor. Am Ende der ersten Reihe kam ich ins Stocken. Mit dem aufgedruckten Wort «Lexikon A bis Z» konnte ich nichts anfangen. Die Bezeichnung war mir völlig fremd. Nie zuvor hatte ich diesen Begriff gehört. Auf Rückfrage erklärte sie mir die besondere Bewandtnis dieses Buches.

Total fasziniert von dem Nachschlagewerk, konnte ich es nicht mehr aus der Hand legen. Ich blätterte von A nach B, fand mich plötzlich wieder bei M oder K. Auf jeder neuen Seite, die ich aufschlug, gab es so viel Interessantes zu entdecken. Rasend schnell verging die Zeit und ich musste zurück nach Hause. Dorthin, wo es fast keine Bücher gab, von einem Lexikon ganz zu schweigen.

Auf dem Heimweg trödelte ich herum. In meinem Kopf spukte das Lexikon herum und meine Gedanken gingen auf eine wundervolle Reise. Wie himmlisch muss es sein, in einem Haus zu wohnen, wo es so viele Bücher gibt. Wo man einfach an einen Bücherschrank gehen kann, um dort ein Buch herauszunehmen, dass auf alle Fragen eine Antwort weiß. Aber in so einem tollen Haus lebte ich leider nicht. Ganz leise verspürte ich etwas, das sich so anfühlte wie Neid.

Das Lexikon ging mir nicht mehr aus dem Sinn. Einige Tage später kam meine Tante Elisabeth zu Besuch. «Was wünschst du dir zu deinem Geburtstag?» wollte sie wissen. Bevor ich ihr antwortete, sah ich mich erst mal vorsichtig um. Nein, meine Mutter war, Gott sei Dank, nicht in unserer unmittelbaren Nähe. Ich fing an, herum zu drucksen. Wortreich erklärte ich ihr, dass mir ihre Geschenke bisher immer sehr gut gefallen haben. Dass ich alle Handtücher, Waschlappen, Bettbezüge, Sammeltassen usw. bestimmt mal gut gebrauchen kann, sollte ich wirklich mal heiraten. Und dass es bestimmt sehr praktisch ist, im Fall der Fälle, solch schöne Stücke in der Aussteuer zu haben. Aber dass ich mir trotzdem, zu meinem dreizehnten Geburtstag, ein Lexikon wünsche, vertraute ich ihr, mit einer immer leiser werdenden Stimme an. Ängstlich suchte ich im Gesicht meiner Tante nach einer Reaktion. Plötzlich schämte ich mich. Ich hatte meinen Wunsch einfach so heraus geplappert. Mir keine Gedanken darüber gemacht, was ein Lexikon kostet.

Sie erfüllte mir meinen Traum und beschenkte mich mit einem ganz aktuellen Bertelsmann Volkslexikon, in der 33. Auflage von 1966.

Noch heute ist es mir unmöglich, meine unbändige Freude über dieses außergewöhnliche Geschenk zu beschreiben, das mich bis auf den heutigen Tag begleitet. Obwohl wahrscheinlich vieles, was darin beschrieben, überholt ist, werde ich diesen Wissensschatz bis ans Ende meiner Tage bewahren und in Ehren halten!

© Anne Michel 2021-11-07

Hashtags