Das Zauberzimmer

Daniela Neuwirth

von Daniela Neuwirth

Story
Sylt 2025

„Was habe ich jetzt gemacht?“, fragt sie sich abschließend und deutlich auch für die andere Person im Raum nach der neuerlichen, wieder einmal zu spät begonnenen Therapiestunde, weil das wahrscheinlich wirklich akut-ernste Thema der Vorpatientin dringlich Vorrang hatte, als ihr bloßes „Ich kann nicht loslassen, was mir passiert ist“-Gejammere, was ja schon in den Endspurt der Traumafolgen-Verarbeitung fällt. Sie hat also ihre Kraft wieder zurück, muss sich jedoch jetzt allem „Liegengebliebenen“ und „Aufgeschobenem“ stellen und erst mal akzeptieren, dass sie nun tatsächlich 18 Monate in den meisten Bereichen „Out of Order“ war – genaugenommen in allem, was ihr Spaß macht.

Sie hatte vor Beginn der Stunde an diesem Dienstag Spät-Nachmittag genug Zeit, in ihrer Warteposition vor dem entzückenden Friesenhaus das Gesicht in der warmen Frühlingssonne, mit der die InsulanerInnen schon wochenlang ohne lästige Regenunterbrechungen, zu baden und zwanzig Minuten länger an ihn auf Abruf zu denken, als sie es eigentlich vorhatte.

Generell hat sie bemerkt, dass es sich lohnt, bisschen Zeit zuvor vor Ort zu verbringen, um das Energielevel auf „Low“ runterzuspulen und das geschäftige Getummels und menschenzahlreichere Getreibe ihres eigenen Wohnortes von sich abzuschütteln, wie es Hunde nach einem vergnügten Schwimmausflug machen, sich damit gedanklich einzustimmen.

Meistens hat sie nach fünf Jahrzehnten Lebenszeit aufgrund tausender Menschen, mit denen sie sich seit dem Moment des Geborenwerdens vernetzt hat, ja auch nicht mehr jedes Detail der Vergangenheit parat, und schon gar nicht, wenn sie sich selbst vergessen hat, aufgrund Arbeitsbedingungen, die in keinem Dritten-Welt-Land mieser hätten sein können, bzw. im Umgangston einem chinesischen Umerziehungs- und Gehirnwäschelager glichen..

Also nutzte sie die Zeit, um in den schönen, seligen Kindheitserinnerungen zu schwelgen und bis zum Grünstreifen auf der gegenüberliegenden Straßenseite zu spazieren, auf dem vereinzelt von strahlend weißem Blätterkragen umgeben, die dottergelben Knopfköpfchen ebenfalls der Sonne entgegenstreckten. Sie bekam Lust darauf, eine Gänseblümchenkette zu basteln als meditatives Einschwingen.

Die Stängel dieser Insel-Blümchen-Art waren aber viel zu kurz, als dass man daraus etwas fabrizieren hätte können, oder ihre Fingernägel schon viel zu groß im Vergleich zu der Fünfjährigen von damals. So trug sie ein Mini-Sträußchen zwischen Daumen und Zeigefinger, die für eine Lilliput-Vase oder einfach um sie als Erinnerung in einem Buch zu pressen, als die eine Dame ging und sie sanft, bestimmt, aber mit geübtem Lächeln, an dem man seine jahrzehntelange Berufserfahrung ablesen konnte, „aufgerufen“ wurde.

Er hatte wohl ihre Handtasche im Warteraum gesehen, die Eingangstür zufallen gehört oder das weiße Fahrzeug am Stellplatz vor dem Friesenhaus entdeckt, dass ihre Anwesenheit verriet.

© Daniela Neuwirth 2025-05-14

Genres
Romane & Erzählungen
Stimmung
Hoffnungsvoll, Inspirierend, Unbeschwert, Reflektierend
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