von Gino Dola
Haruna war ein junges MĂ€dchen Ende zwanzig, ihr Leben verlangte viel von ihr, sie wiederum erwartete viel von ihrem Leben â eher ein beidseitiges Nehmen statt eines Gebens und Nehmens. Stillstand war Harunas gröĂte Angst, in ihrem Job gab sie tĂ€glich alles, ihre eigentliche freie Zeit hatte sie sich vollgepackt mit Zielen, die es um jeden Preis zu erreichen galt. Wehe, wenn nicht, hastete dieser warnende Gedanke stets durch ihre TagtrĂ€ume. Der innere Druck, den sie sich selbst geschaffen hatte, begann sie allmĂ€hlich aufzufressen. Haruna steckte sich immer höhere Ziele, sowohl auf der Arbeit als auch in ihrer Freizeit, die keine freie Zeit mehr war; beherrscht von noch mehr Arbeit und noch viel mehr Zielen. Jede Minute kĂ€mpfte Haruna mit und gegen sich selbst. Jeden Atemzug verlangte ihr ganzer Organismus, besser zu sein als er es vor einer Minute war. Das Monster in ihr begann zu wachsen, wĂ€hrend Haruna weiter auf der Ăberholspur durch ihr Leben rannte. Getrieben von ihren Gedanken, wuchs das Monster schon bald unbemerkt aus ihrem erschöpften Körper heraus. Sie schlief kaum noch mehr als drei Stunden in der Nacht, schleppte sich durch die Tage, die ihr zunehmend blass und grau vorkamen, wenngleich auch die Sonne ihre leicht roten Wangen wĂ€rmte. Den Kaffeebecher in der Hand, blickte sie mit geschlossenen Augen der Sonne entgegen. Die kleine Pause, die sie sich gönnte, beendete sie nach nur wenigen HerzschlĂ€gen. »Weiter geht’s, keine Zeit zu faulenzen«, klopfte sie sich aufmunternd auf die Wangen. Nicht selten verschwendete sie erst abends das erste Mal am Tag einen Gedanken an sich selbst, wischte jenen Gedanken jedoch augenblicklich mit einer lĂ€ppischen Handbewegung fort. Keine Zeit an mich zu denken, ich muss noch lernen, widmete sich Haruna wieder ihren Zielen. Ihr Körper schmerzte beinahe tĂ€glich â nicht einmal ihre eigene fleischliche HĂŒlle hielt ihrem immerzu aktiven Ich noch stand. Das Monster wuchs weiter aus ihrer rechten GesichtshĂ€lfte heraus, genĂ€hrt von Stress und Angst wurde es rasch gröĂer. Haruna kĂ€mpfte nunmehr nicht nur gegen sich selbst, sondern auch gegen das Monster, das sie selbst gar nicht wahrnahm. Die Menschen um sie herum wandten sich von ihr ab, die wenige Zeit, die ihr noch fĂŒr sich selbst blieb, vergrub sie einfach unter noch mehr Arbeit. Haruna verstand nicht, warum mehr und mehr Menschen sich von ihr abwandten, obschon sie fĂŒr alle zu jeder Tages- und Nachtzeit da war; stets hilfsbereit, fĂŒr jeden ein LĂ€cheln im Gesicht und eine Handvoll warmer Worte. Doch eben jene Menschen, die Haruna auf dem Weg zu ihren TrĂ€umen und Zielen auf der Ăberholspur des Lebens zurĂŒcklieĂ, sahen nur noch das Monster, das aus ihrem Gesicht herausgewachsen war und ihre warme, liebevoll lĂ€chelnde GesichtshĂ€lfte verdeckte. Eine TrĂ€ne rollte aus ihrem linken Auge, als ein Gedanke der Einsamkeit durch sie hindurchwehte. Keine Zeit, schrie das Monster sie an. Mach das noch fertig heute, sonst bist du ein schlechter Mensch, fĂŒgte es hinzu. Haruna tat, was ihr inneres Monster ihr in den Kopf legte, und begann sich selbst zu vergessen. Von nur einem einzigen Tag hatte Haruna bereits gute achtzehn Stunden mit wechselnden TĂ€tigkeiten gefĂŒllt. Nun hatte sie wirklich keine freie Minute mehr, sich ihrer selbst bewusst werden – doch das Monster wollte mehr und verschlang ihren gesamten Kopf. Unter ihren glasigen Augen ergoss sich der zu einem traurigen Strich geformte Mund ins Bodenlose. Nichtmal ein gezwungenes LĂ€cheln hĂ€tte die Traurigkeit noch ĂŒberspielt.
© Gino Dola 2024-06-26