von Lea Beschorner
Die schönste Zeit des Tages ist für mich der Moment nach dem Aufwachen. Wenn ich noch nicht ganz bei mir bin und noch nicht angefangen habe zu denken. Aber sobald ich mir bewusst werde, dass mein Leben immer noch das gleiche wie am Vortag ist, kann mein Tag nur noch beschissen werden.
Meine Eltern diskutieren schon gar nicht mehr mit mir. Jeden Morgen hatte ich erneut versucht, sie zu überzeugen, nicht zur Schule gehen zu müssen. Anfangs hat es noch geklappt, aber mittlerweile sehen sie keine Alternative, als mich dort hinzuschicken. Sie verstehen nicht, wie schlimm die Schule sein kann, wenn man so ist wie ich.
Mein Lehrer hat soeben angekündigt, dass wir den Rest der Stunde in Gruppen arbeiten, die wir uns selbst aussuchen dürfen. Ich habe keine Anstalten gemacht, mich nach potentiellen Mitgliedern umzusehen. Es läuft jedes Mal darauf hinaus, dass ich denen zugeteilt werde, die noch einen Platz frei haben. »Wie heißt du nochmal?«, fragt mich Lou. Ich verzichte darauf, ihr zu erklären, dass wir mal ein halbes Jahr in Mathe nebeneinander saßen. »Tim«, antworte ich schlicht und vermeide Augenkontakt. Lieber schaue ich zur hässlichen gelben Wand neben mir, die ihre beste Zeit schon lange hinter sich hat.
Ich beginne, den Text zu lesen, den wir bekommen haben. Lou und ihre Freundin unterhalten sich über Dinge, die ich nicht verstehe. Irgendwelche Trends, dann irgendwelche Typen und schließlich irgendwelche Videos im Internet. Von ihrem oberflächlichen Geschwafel bin ich solange genervt, bis mir auffällt, wie faszinierend sie ist: Lou kann unheimlich viel reden und dabei exakt nichts sagen. Ich höre, wie mehr und mehr Worte ihren Mund verlassen, aber keins davon ergibt einen tieferen Sinn.
Ich bin ein Außenseiter der für mich ungefährlichen Sorte. Meine Mitschüler machen sich nicht mal die Mühe, mich fertigzumachen. Ich bin ihnen einfach egal. Ich bin ihnen so egal, dass ich den Aufwand nicht wert bin, meinen Rucksack über der Mülltonne auszukippen oder mir mein Essensgeld wegzunehmen. Mädchen aus meinem Kurs kennen nicht einmal meinen Namen. Seit vier Jahren gehe ich auf diese Schule. Ich hatte darüber nachgedacht, auf eine andere zu wechseln, aber die Sicherheit, nicht gemobbt zu werden, hält mich dann doch hier. Als der Neue irgendwo hinzuzukommen, ist bestimmt schwieriger, als mich hier mit meinem Schicksal abzufinden.
Keine Freunde zu haben, ist die eine Sache, aber den Grund dafür nicht zu kennen, macht es nicht unbedingt einfacher. Möglicherweise grenze ich mich von den Menschen in meinem Alter ab, weil ich zu viele Dinge hinterfrage. Weil ich überhaupt über Dinge nachdenke. Ich frage mich oft, was ich anders machen könnte, um akzeptiert zu werden. Natürlich will ich mich nicht verstellen, aber ich würde gern immerhin ein bisschen dazugehören.
© Lea Beschorner 2022-04-26