Дефицит – Defizit

Elisabeth Hofer

von Elisabeth Hofer

Story

Defizit bezeichnet im Deutschen wie in der russischen Sprache Mangel, Ausbleiben, Schwund.

Unsere Überflussgesellschaft nahm 2020 mit Überraschung zur Kenntnis, dass es auch bei uns Defizite geben kann: an Masken, Medikamenten, Germ und Toilettenpapier. Diese Produkte wurden zur Mangelware, Lieferungen blieben aus, Lagerbestände schwanden.

Meine Geschichte aber spielt im Jahr 1992, als in Moskau das Beheben von „Defizit“ zu einer der Hauptbeschäftigungen der Menschen wurde. Es gab dramatische und weniger dramatische Fälle von „Defizit“. Ein weniger dramatischer, dafür aber deutlich im Straßenbild wahrnehmbarer Fall war der Mangel an Haarfärbemittel mit der Ausnahme eines stumpfen Orangetons. Überall auf den Straßen und in der Metro konnte ich die im gleichen Ton gefärbten Frauenköpfe beobachten.

Problematischer für viele meiner Freunde war dann schon der Rückgang der Wodkaproduktion, aber auch hier wussten sie sich zu helfen: Sie mischten reines Ethanol mit Wasser. Das nannte sich „Spirt“, schmeckte wie Wodka, war aber meist hochprozentiger und hatte eine entsprechende Wirkung und Nachwirkung. Dass ich „Spirt“ und nicht Wodka getrunken hatte, merkte ich spätestens am nächsten Morgen an den Kopfschmerzen und daran, dass dieses Gemisch nach einigen Stunden ausflockte und am Morgen danach einfach grauslich aussah.

Wirklich dramatisch aber waren die leeren Supermärkte. Über Wochen gab es in Moskau kein Fleisch zu kaufen. Aber in solchen Situationen, wenn die staatliche Versorgung mit Lebensmitteln versagte, funktionierten private Kanäle. „100 Freunde sind mehr wert als 100 Rubel“. Dieses russische Sprichwort bewahrheitete sich wieder einmal. Das Netzwerk meiner Freunde arbeitete auf Hochtouren, und endlich kam die Nachricht: in Melitopol gibt es Fleisch zu kaufen! Die Mitarbeiter einer Kolchose hatten diese in Windeseile privatisiert, eine stattliche Anzahl von Schweinen geschlachtet und verkauften das Fleisch privat.

Also fuhren wir im Februar 1992 2500 km mit dem Zug von Moskau nach Melitopol. Melitopol ist eine Stadt in der Ukraine, in der Nähe des Asowschen Meeres. Die Ukraine war zwar 1991 unabhängig geworden, aber die Grenze zwischen der Ukraine und Russland war noch vollständig durchlässig, und kein Zöllner kümmerte sich darum, was die Reisenden transportierten.

Die Zugreise in eine Richtung dauerte 16 Stunden. Jeder von uns hatte einen Rucksack, den wir mit großen Stücken von tief gefrorenem Schweinefleisch vollstopften. Bezahlt wurde in Dollar. Auf der Rückfahrt wurden die Rucksäcke in einer Vorrichtung bei der Radaufhängung des Wagons, in dem unsere Abteile lagen, verstaut und erhielten somit die natürliche Kühlung der eiskalten Winterluft.

Zurück in Moskau standen die Frauen stundenlang in der Küche, um das Fleisch, das nicht sofort gegessen wurde, zu konservieren. Die Versorgung für die nächsten Wochen war gesichert.

© Elisabeth Hofer 2020-09-24

Hashtags