Dein armes Auto!

Annemarie Baumgarten

von Annemarie Baumgarten

Story
Werdau und Umgebung 1998

Heute Morgen kamst Du erneut auf den letzten Drücker angewetzt. Wolltest mich aus dem Kaltstart heraus sofort auf höchste Leistung bringen, weil Du wieder verschlafen hattest. Um noch einigermaßen rechtzeitig anzukommen, musstest Du heute wieder sämtliche Rekorde und Verbote durchbrechen. Das Wort Kaltstart ist nun wirklich nicht unwahr. Wir schreiben zwar den 11. August 1998, aber heute Nacht war es absolut ungemütlich draußen. So eine Dürre. Davon merkst Du nichts, wenn Du in Deinem weichen, warmen Bettchen oben in Deiner Eigentumswohnung liegst. Und ich armes Schwein stehe hier unten. Mutterseelenallein! Ich bin doch so klein und schutzbedürftig. Willst Du das nicht mal einsehen? Bei jedem Wind und Wetter muss ich hier ausharren. Mal schüttet es, was vom Himmel herunter will, oft bin ich tief verschneit. Und wenn die Sonne unbarmherzig auf meinen Kopf kracht, sind es in meinem Innern 50 °C und mehr, ich weiß nicht genau, wie viel, das Thermometer hatte den Geist aufgegeben. So, nun sind wir an Ort und Stelle. Kaum, dass ich richtig warm geworden bin, stellst Du mich schon wieder auf einem gottverlassenen Parkplatz ab, weil alle anderen Flächen schon belegt waren. Wer weiß, wann Du wiederkommst, um mich abzuholen. So ein Tag kann verdammt lang werden. Mir ist hier immer langweilig, ich weiß nicht, was ich machen soll. Ist Deine Arbeit dann endlich aus, stehen wir wieder im Stau, wie jeden Nachmittag. Mein Motor kocht. Du bist dann immer so wütend und machst den anderen Autofahrern so merkwürdige Zeichen, die ich bis heute nicht verstehe. Dein Gesichtsausdruck sieht gefährlich aus. Meine Hupe ist im Dauerlauf. Vorhin hätte es fast geknallt. Der hätte uns beinahe gestreift! Mein schöner rechter Außenspiegel und der Blinker wären dann mindestens hinüber gewesen. Ich hätte mich eine Weile nicht mehr betrachten und auch keinem mehr zublinzeln können. Ab und an fahren wir noch zu der einen oder anderen Kaufhalle. Dann bist Du wieder eine ganze Weile weg. Kommst Du dann endlich, bist Du schwer bepackt mit allerlei Gerümpel. Das bekomme ich dann alles aufgeladen. Taschen, Körbe, Beutel, Getränkekisten wirfst Du auf die Rücksitze und in den Kofferraum. Nur unnützes Zeug, das Du Dir wieder hast aufdrehen lassen. Und ich muss dann schwitzen, um die Last zu Dir nach Hause zu bringen. Manchmal stehe ich auch auf einem Parkplatz gleich an der Straße. Da ist vielleicht was los. Viele Autos fahren an mir vorbei. Eine Menge Leute trippeln geschäftig draußen entlang. Manche bestaunen mich auch. Ich habe ja den Titel „Europas schönster Kleinwagen“ auch nicht umsonst errungen. Kurzum, die schlimmen Tage überwiegen. Ich hau‘ jetzt ab hier und rumpel zum nächsten Gebrauchtwagenhändler. Vielleicht finde ich einen netten neuen Besitzer mit einer schönen, gemütlichen und geräumigen Garage, der nicht Tag für Tag solchen Terror macht. Leb wohl! Schönen Gruß, Dein Auto!


Das mit der Garage wurde einige Zeit später Realität. In Wintern mit viel Schnee galt es allerdings in oft intensiver Arbeit, das Tor freizubekommen. Das Auto hielt elf Jahre durch und bekam 2009 durch die Abwrackprämie und 2018 durch Reparaturanfälligkeit und eine Arbeitsstelle in einem damals schlecht mit dem ÖPNV erreichbaren Ort Nachfolger.

© Annemarie Baumgarten 2023-11-20

Genres
Humor& Satire
Stimmung
Emotional, Hoffnungsvoll