Dein Name ist Luisa

Netti Wats

von Netti Wats

Story

Du hattest mal einen Namen und du hattest ein schönes Zuhause. Du wärst in ein weißes Haus gezogen. Mit langen Vorhängen vor den bodentiefen Fenstern und einem kleinen Garten hinter dem Haus. Auf der Terrasse hättest du die anderen Nachbarskinder spielen hören und wahrscheinlich wärst du mit der Nachbarstochter rumgetollt. Dein Zimmer wäre im ersten Stock gewesen und sicherlich hätte ich mich sogar erweichen lassen, es in Rosa oder in irgendwelchen anderen „Mädchen“-Farben zu streichen, die ich gar nicht mag. Aber vielleicht hättest du sie gemocht.
Du hattest braune Haare und leichte Locken und dazu die grün-goldenen Augen von deinem Vater. Er hätte sich mit zum Krav-Maga genommen. Und hätte dir jeden Trick am Boxsack und in der CrossFit-Halle gezeigt, den er gekannt hätte. Damit du ein starkes Mädchen werden kannst, was immer in der Lage ist, seine eigenen Grenzen zu setzen und sie zu verteidigen. Damit du aber auch lernen kannst, dass die Grenzen von anderen nicht deine sein müssen und du jederzeit wieder über dich hinaus wachsen kannst.
Dein Vater hat dich schon geliebt, als du nur in Gedanke in unserem Kopf warst und wir verliebt im alten Gästezimmer standen – in einer innigen Umarmung, während wir darüber nachgedacht haben, ob dieser Raum ein Kinderzimmer sein könnte. Es gab eine Zeit im Leben, wo wir beide keine Kinder haben wollten. Aber dich haben wir herbeigesehnt. Dich wollten wir sehr. Du bist heute 4 Jahre alt. Du bist der Gedanke an ein kleines Mädchen, namens Luisa. Die in einem weißen Haus mit grauem Dach und Garten wohnt. Die mit ihrem Vater zum Sport geht und zwei Liebende zu einer Familie gemacht hat. 

Aber das Leben passiert. Schickt den Vater in einen Krieg, der nicht seiner war und lässt ihn als ein Anderer zurückkommen. Lässt zwei Liebende nachts an heißen Tränen der Verzweiflung ersticken, weil sie sich alles sagen konnten und doch keine Worte mehr übrig haben. Sie haben keine Worte des Trostes füreinander, sie können nicht über die Einsamkeit sprechen, die sie fühlen und die so groß ist, dass sie sich wie tiefsitzende Splitter im Herzen anfühlen. Sie zerbrechen – die Liebenden. Und mit ihnen zerbricht ihr Traum an ein kleines Mädchen. Am Ende hat es dich nie gegeben. Du warst nie mehr als der Wunsch zweier Menschen, die sich so miteinander verbunden gefühlt haben, dass sie ein Kind wollten. Wir haben uns nach dir gesehnt, wir wollten dich sehr. Fragt mich heute jemand, ob ich Kinder habe, verneine ich. Nur in dunklen Nächten mit vertrauten Ohren ist die Antwort etwas ausführlicher. Dann sage ich: Es gab ihn – diesen einen Menschen, mit dem ich alles wollte: ein Leben, eine Zukunft und eine Familie. Wir hätten in einem weißen Haus gewohnt mit grauem Dach und einem Garten. Und der Name unserer Tochter wäre Luisa gewesen.

© Netti Wats 2024-09-02

Genres
Romane & Erzählungen
Stimmung
Emotional