Deine Spiegel

Kerstin Wirth

von Kerstin Wirth

Story

Auf einem mehrtägigen Seminar deiner neuen Firma lernst du eine Kollegin kennen. Du hast sie noch nie zuvor gesehen, und sie sitzt dir zwar gegenüber, allerdings am anderen Ende des Raumes. Ihr sprecht abgesehen von einer Gruppenarbeit kaum miteinander, aber irgendwas an ihr bringt dich ins Grübeln. Am zweiten Tag steht ihr in einer Kaffeepause zufällig nebeneinander, und obwohl du gerade einmal ihren Namen weißt, drängt dich etwas innerlich dazu, sie zu fragen, wie es ihr geht. Als würde ein Magnet etwas in dir bewegen. Deine Frage scheint sie zu verwirren (vermutlich der Tatsache geschuldet, dass ihr euch nicht kennt), aber nach einem kurzen Zögern gesteht sie, dass es ihr nicht so gut geht, weil sie leider nur ein paar Tage zuvor ihren Papa verloren hat. Du sprichst dein Beileid aus und erwähnst, dass du die Situation kennst. Die Pause ist leider viel zu kurz, aber bevor du an deinen Platz zurückgehst, schreibst du ihr deine Handynummer auf einen Zettel, falls sie jemanden zum Reden braucht. Immerhin wohnt sie normalerweise in Hannover und verbringt die Abende aktuell allein auf ihrem Hotelzimmer, und falls sie jemanden zum Reden braucht, hätte sie jetzt die Möglichkeit. Noch am selben Abend schreibt sie dir. Normalerweise sprichst du Fremde nicht einfach so an, aber irgendwas hat eine Verbindung zwischen euch hergestellt. Und irgendwann später schreibt auch sie dir, dass sie das Gefühl hatte, du würdest ihr ansehen, was sie beschäftigt.

Du hast in den letzten Jahren leider viel zu oft miterleben müssen, wie Freunde von dir vergleichbare Situationen durchleben mussten. Viele verlieren mehr oder weniger überraschend enge Familienmitglieder, manchmal verbindet man nicht nur Positives mit dem oder der Verstorbenen. Und auch, wenn es der natürliche Lauf der Dinge ist, dass uns Menschen leider früher oder später verlassen, bleiben doch alle Beteiligten meistens mit offenen Fragen, Unverständnis und tiefen schwarzen Löchern in ihrem Leben zurück.

Ihr sprecht nicht immer darüber, mit manchen deiner Freunde wird das Thema sogar nie angesprochen, aber irgendwie fühlt es sich in Gegenwart dieser Personen für dich an, als wärt ihr alle Mitglieder eines sehr traurigen, makabren Vereins: Es hat zwar jeder seine ganz eigenen, persönlichen Erlebnisse, aber zwischen euch herrscht ein stilles Verständnis, ein Miteinander, eine Art Respekt, so als würde man denken „Du kennst das also auch.“

Du stellst fest, dass viele der Ängste und Gedanken, die du von dir selbst kennst, anscheinend üblich sind. Gefühle, die ein Außenstehender vielleicht nicht ohne weiteres nachvollziehen kann, wie zum Beispiel trotz der permanenten unterschwelligen Trauer in einer Sekunde einen Lachflash zu haben, der in nur einem Blinzeln zu Tränen umschwingen kann.

Und eben weil du dir manchmal in „normaler“ Gesellschaft wegen all dieser Dinge ein bisschen wie ein Außerirdischer vorkommst, und obwohl du niemandem auf der Welt wünschst, was früher oder später eben unvermeidbar sein wird: Du bist froh, dass es in deinem Leben diese Menschen gibt, die wie lebendige Spiegelbilder agieren und dir zeigen, dass dein Verhalten und deine Gedanken gar nicht so verrückt sind.

© Kerstin Wirth 2024-03-20

Genres
Romane & Erzählungen