Dem Sturm entgegen.

Gwendolin Korinek

von Gwendolin Korinek

Story

Eine Morgenmeditation für Melancholiker*innen———————————————————————

“So, wie jeden Morgen die Sonne aufgeht, kannst auch du in deinem Herzen eine kleine Sonne aufgehen lassen und lächeln…”

…und schon bin ich ausgestiegen. Glücklich zu sein entspricht überhaupt nicht meinem Naturell. Deshalb möchte ich alle, denen es wie mir geht, zu einer Meditation einladen, die wirklich aus dem Kern unserer Seelen kommt.

Es ist Sommer. Wir befinden uns in Akureyri auf Island. Es hat zehn, maximal fünfzehn Grad Celsius. Die Sonne, die hier theoretisch 24 Stunden am Tag scheinen sollte, ist nicht auszumachen, sondern wirft lediglich ein schwaches, diffuses Licht auf die regengetränkten, dunkelgrünen Hügel. Am Horizont ballen sich Gewitterwolken zusammen, die so schwarz und opak sind wie der Kaffee, den ich morgens trinke. Jeden Moment könnten sich dicke, fette, kalte Regentropfen aus den Wolken lösen; es ist eher ein Zufall, dass es noch nicht zu regnen angefangen hat. Windböen von bis zu 101 km/h sind angesagt. Alleine der Gedanke an sie reicht aus, um mir einen Kälteschauer durch den ganzen Körper zu jagen. Im Wissen um den Windchill-Effekt, der die erlebte Temperatur um zehn bis zwanzig Grad senken kann, überkommt mich ein intensives Frösteln. Muss ich heute wirklich hinausgehen? Wenn ich besonderes Pech habe, erwartet mich im Laufe des Nachmittages auch noch Graupel, der mir entgegenschlägt und meine Hände, meine Stirn und Wangen zerbeißt. Heute ist gluggaveður wie aus dem Bilderbuch: Wetter, das man nur genießen kann, wenn man zu Hause in eine wohlig warme Kuscheldecke eingerollt ist, bei einem Häferl Grüntee ein spannendes Buch liest und dazwischen hin und wieder dem stürmenden Regen vor dem Fenster zusieht.

Aber es hilft nichts… ich muss das Haus verlassen, und wenn ich mich noch so dagegen sträube. Meinen Freund*innen und Kolleg*innen bleibt das schließlich auch nicht erspart. Sorgfältig packe ich Haube und Handschuhe ein, ziehe Wandersocken und Wanderschuhe an, wickle meinen moosgrünen Schal um den Hals, schlüpfe in meine wasser- und windabweisende Fahrradjacke und ziehe mir ein Schlauchtuch über die Ohren. Meine Nebelbrille mit den hellen Gläsern schirmt meine Augen vor Regen und Staubkörnern ab und verbessert das Kontrastsehen.

Ich atme tief durch, öffne die Tür, trete hinaus in die diesige Landschaft, schließe die Haustür und drehe den Schlüssel um. Von hier aus erspähe ich den Anfang eines schmalen Grates, der geradewegs in eine undurchdringbare Nebelwand hineinführt. Dort erwarten mich meine Aufgaben des Tages. Obwohl es links und rechts mehrere hundert Meter schnurstracks in die Tiefe geht, werde ich ruhig, langsam und trittsicher gehen, ohne den Kopf zu verlieren, so wie jeden Tag.

Der heutige Tag kann kommen.

© Gwendolin Korinek 2021-03-04

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