von Christine Mayr
Im Alter vergisst man eben manchmal etwas, erklärte mir der Mann, zu dem ich meinen Patienten geschleppt hatte. Plötzlich weiß man nicht mehr, wie Dinge gehen, die bis einen Atemzug vorher selbstverständlich waren. Weil, so die rätselhafte Begründung, ein Zucken mit der falschen Wimper, eine partielle Sonnenfinsternis oder ein Regentropfen, der in den Schmutz der Fensterscheibe eingeschlagen hat, mit einem Streich das Gedächtnis leerfegt. So war es bei meinem Sorgenkind gewesen. Von einem Moment auf den nächsten erinnerte es sich weder daran, wer es war, noch wozu es auf der Welt war, und schon gar nicht konnte es seinen Daseinszweck erfüllen.
Nicht, dass ich erwog, mich von dem Maroden zu trennen, dazu hatten uns die gemeinschaftlichen Jahre zu sehr aneinandergeschweißt, mich geradezu abhängig von ihm gemacht, hatte ich mich an seine Launen und Macken gewöhnt, wusste Lappalien von ernsthaften Störungen zu unterscheiden und hatte jeden Tag gebannt gewartet, was er mir heute bieten würde. Meist waren es Alltagskomödien, wie sie in jeder Familie anfallen, manchmal schwang er sich zu Tragödien auf, die ich je nach Tagesverfassung schnell beendete oder duldsam ertrug, doch ab und zu servierte er mir Köstlichkeiten, erwies Kunstsinn und traf meinen Geschmack mit einer Akkuratesse, wie sie nur in langer Vertrautheit wachsen kann.
Er war nicht der Größte, aber schlank im Profil, mit makelloser Haut und großer Standfestigkeit. Er wusste genau, wo sein Platz war und wo meiner, stellte die fragile Balance zwischen Abstand und Nähe nie in Frage. Im Vergleich zu anderen Mitbewohnern, die mich mit Besserwisserei und ständigem Heischen nach Aufmerksamkeit nerven, war er pflegeleicht. Deshalb war ich einigermaßen enttäuscht, geradezu beleidigt, als er auf den Shitstorm im Wasserglas, dem irregeleiteten Regentropfen, der angeknabberten Sonne oder Was-auch-immer derart sensibel reagierte, dass mit ihm nichts mehr anzufangen war. Stereotyp wiederholte er den einzigen Satz, der ihm von seinem reichhaltigen Repertoire geblieben war, bis ich mir Sorgen zu machen begann.
Ich tat, was sich in solcher Bedrängnis aufdrängt. Ich befragte Freunde, konsultierte den digitalen Ratgeber und rief letztlich einen Facharzt an. Hausbesuche mache er nicht, ließ mich der wissen, weshalb ich meinen Patienten in Tücher wickelte, durch diese einen Gürtel fädelte und zu einem Griff schloss, ihn in dieser improvisierten Trage zum Auto schleppte, auf die Rückbank verfrachtete, um schlussendlich zu hören, dass weder ein chirurgischer Eingriff noch ein Gnadenschuss notwendig war. Mir fiel ein Stein vom Herzen, der Retter legte eine frische Batterie in die Fernbedienung ein, schlug einen Obolus für das Schweinchen neben der Kassa vor und hielt mir die Tür auf, durch die ich den wieder in seine Tragetücher gewickelten Fernseher manövrierte. Jetzt werde ich testen, ob mein Patient tatsächlich genesen ist.
©chrim2025
© Christine Mayr 2025-04-10