von Michaela Kaidel
In den Tiefen meiner Manteltasche habe ich einen Brief gefunden. Ohne Adressat oder Anschrift. Auf verwelktem Papier in Worten einer zittrigen Hand. Der Brief ist nicht an mich gerichtet. Ich erinnere mich nicht mehr an den Tag, weil bereits viel Zeit vergangen ist seitdem. Aber ich erinnere mich an den Grund warum ich ihn geschrieben habe. Beinahe erdrücke ich den Brief in meiner zittrigen Hand und schlinge den Mantel enger um mich. Es ist Winter und es ist kalt. Mit schnellen Schritten verlasse ich den Hofeingang und schreite durchs offene Tor.
„Einen schönen guten Morgen wünsche ich ihnen!“, begrüßt mich der Wachmann.
„Wenn sie das sagen, muss es wohl auch stimmen“, erwidere ich in aller Höflichkeit.
Es ist Jahre her, dass ich über den Tod auf dieselbe Weise gedacht habe wie zu der Zeit, als ich es für nötig gehalten habe so einen Brief zu schreiben. Der Tod war wie das Licht am Ende eines Tunnels, der wie eine Reise durch ein dunkles Gebirge gewesen ist. Ich erinnere mich an mehr Hindernisse in meinem Leben als an glückliche Momente. Wenn die Tage so schwer und ermüdend wurden, dass mein Bett und ich ein Organ waren und ich begann Sand zu weinen, weil ich keine Tränen mehr hatte, habe ich vom Tod geträumt. Als wäre es Medizin um meinen Schmerz verschwinden zu lassen. Als wäre es die Gnade für meine Qual. Wenn das Leben die Verdammnis ist, dann muss der Tod die Erlösung sein.
Mama, ich traue mich nicht, dich um Verzeihung zu bitten. Ich wage es nicht einmal ein einziges Wort an dich zu richten, wenn ich doch weiß wie sehr ich dir damit weh tun werde. Wirst du mir glauben, wenn ich dir erzähle, dass ich mein Bestes gegeben habe? Dass ich es immer und immer wieder versucht habe am Leben festzuhalten? Ich verspreche dir, es war schmerzlos und ich verspreche dir, dass ich lange über diesen Tag nachgedacht habe. Mama, ich bin so unfassbar froh, dass ich dich an meiner Seite wissen konnte. Du hast mir alles gegeben, was du hattest und es hat diesen Tag so lange wie möglich hinausgezögert. Und jetzt ist er da und ich habe schreckliche Angst. Ich habe Angst davor, wenn du mich findest. Ich habe Angst vor deiner Trauer. Bin ich nicht schrecklich? Wieso tue ich dir das nur an? Es tut mir so unendlich leid.
Ich kann mir nur vorstellen, dass dieser Brief alles sein wird an letzten Worten, die du von mir bekommen wirst. Also möchte ihn so lange gestalten wie mir möglich ist…
Ich habe den Brief nie zu Ende geschrieben. Er war für die schlimmsten Tage. Eine Erinnerung daran wie schmerzhaft es war mir zu vorstellen, dass diese letzten Worte jemand eines Tages lesen muss. Verzeihe mir Mutter, aber ich war manchmal nicht stark genug.
© Michaela Kaidel 2022-08-30