Der Abteilungsleiter

Esther

von Esther

Story

Einer vom alten Schlag. Ja, das war er. Respekt- und sogar angsteinflößend. Die Stimme tief und einem Brummen gleich. Künstlich um eine Oktave tiefer gelegt vom jahrzehntelangen Kettenrauchen. Sein Körper massig und aufgedunsen. Die Gesichtshaut unnatürlich rot. An manchen Stellen sah man, wie sich Hautfetzen ablösten. Man hätte sie zwischen die Fingerspitzen nehmen und wie Papier abziehen können. Jede Faser seines Körpers gab seinen ungesunden Lebensstil preis. Ein Jahr war ich beruflich für ihn tätig. Ich zählte die Tage, denn hier gefiel es mir nicht. Ein öffentlicher Betrieb. Einstempeln. Ausstempeln. Alles an diesem Ort widerstrebte meinem Wesen. Man war eine Nummer und wurde von den meisten auch so behandelt. Frauenfeindliche Witze waren an der Tagesordnung. Ich war jung und hatte nicht den Mut zu kontern.

Es gibt Erfahrungen, die macht man, damit man weiß, was man in Zukunft genau NICHT will. So ging es mir an diesem Arbeitsplatz. Manche Menschen hier schienen keine Seele zu haben. Dafür gab es einen strengen Dresscode. Chic angezogen sollte man sein. Die Männer trugen meist Anzug und Krawatte. Von Frauen wurde erwartet, dass sie sich ebenso adäquat kleideten.

Für seine Launen war er gefürchtet, mein Abteilungsleiter mit dem roten Gesicht und der sich ablösenden Haut. Er grüßte nur, wenn ihm danach war. Im Gegenzug erwartete er jedoch permanente Freundlichkeit seiner Mitarbeiter. Für seine Wutanfälle war er bekannt. Wenn er mit einer seiner Sekretärinnen schrie, hörte man dies noch viele Zimmer weiter. Einmal soll er sogar die Tastatur seines Computers zum Fenster hinausgeworfen haben, weil der PC nicht das machte, was ER wollte.

“Rücksprache” stand stets auf einem Zettel in meinem Brief-Postfach, wenn er mit mir reden wollte. In dringenden Fällen mit einem Rufzeichen versehen. Mit pochendem Herzen ging ich dann den langen Gang zu seinem Büro entlang und klopfte an seiner Tür. Allein meine Befürchtungen traten nie ein. Bald machte ich die Erfahrung, dass er auch eine andere, viel weichere Seite hatte. Im Vier-Augen-Gespräch konnte er wertschätzend und freundlich sein. Ich spürte, dass er mich mochte und fördern wollte. Mein Job ähnelte einem Trainee-Programm, nach einem Jahr sollte man einen neuen Arbeitsplatz in der Branche gefunden haben. Dabei half er mir, ohne dass dies von ihm verlangt worden wäre. “Bei einer großen Zeitung wird jemand gesucht. Ich habe dort bereits angerufen und mich für Sie eingesetzt”, sagte er milde lächelnd bei unserem letzten persönlichen Gespräch. Ich war baff. Ein Mensch mit zwei Gesichtern.

Als ich einige Jahre später hörte, dass er plötzlich verstorben war, konnte ich meine Emotionen nicht einordnen. Doch eines fühlte ich trotz aller unangenehmen Erfahrungen während meiner Zeit in seiner Abteilung: Dankbarkeit – dafür, dass ich ihn kennenlernen durfte. Er hatte MICH gesehen. Am Ende war ich doch keine Nummer in seiner Abteilung gewesen.

© Esther 2020-09-22