Auf der Hinterseite meines Elternhauses, da wo die Balkone sind – die Oberlab und die Unterlab – steht ein alter Birnbaum. Er war nie sehr ertragreich. Die wenigen Birnen, die er abwarf, waren sehr klein und steinig, aber süß. Es war auch nicht seine wichtigste Aufgabe, Früchte zu tragen, obwohl er wunderschön und üppig blühte.
Seine Aufgabe war die einer verborgenen Treppe – für uns Kinder ein beliebter Kletterbaum. Manche Sommer musste die steile Stiege zu unseren Schlafzimmern unbenutzt bleiben, weil wir über den Baum stiegen, um schlafen zu gehen – mit langen Nachthemden an – und wieder aufzustehen. Mein Vater schimpfte immer, weil er den Birnenmangel darauf zurückführte.
Er wurde auch sehr beansprucht für das Fangen- und Verstecken spielen. Natürlich gab es manchmal auch Unfälle und wir trugen blaue Flecken und Kratzer davon, aber nie etwas Ernstes, obwohl er schon sehr hoch war und wir auf ihm auch auf das Hausdach kletterten, um auf dem Dach zu spielen – natürlich auch unerlaubt.
Ich erinnere mich an einen Winter mit meterhohem Schnee. Wir stiegen auf das Dach und hüpften in den Schnee. Allerdings steckten wir dann so fest ihm Schnee, dass uns jemand ausbuddeln musste.
Noch eine Aufgabe stand dem Baum zu. Er schirmte die Sonne ab, wenn ich auf dem alten Diwan auf der Oberlab lag und las – stundenlang. Das war mein Lieblingsplatz in den Sommerferien. Ich wurde da nicht gesehen, bekam aber alles mit, was im Haus und im Dorf vor sich ging.
Ganz wichtig war er für meine Albträume. Ob Räuber und Mörder mich verfolgten, oder das Haus brannte – er war der Fluchtweg. So schnell konnte niemand den Baum hinunterklettern, dann brauchte ich nur noch das Feld überqueren, beim Nachbarn Alarm schlagen – und war in Sicherheit. Aber so weit ist es nie gekommen.
Seine Hauptaufgabe bekam er, als wir Teenager wurden. Heimlich aus dem Haus, heimlich hinein. Dann natürlich auch heimliche Besuche – nur auf dem Balkon …
Der alte Birnbaum steht immer noch – wohl seit 100 Jahren, denn er war schon alt, als ich Kind war. Sehr knorrig, morsch und bemoost – wenig Blätter und gar keine Birnen mehr. Er hat auch keine Aufgabe mehr, keine Kinder, keine Heimlichtuereien, aber wir lieben ihn immer noch.
Wenn ich ihn heute anschaue oder ihn mir vorstelle, denke ich an ein Rilke Gedicht – allerdings über die Linde:
„Und eine Linde ist mein Lieblingsbaum,
Und alle Sommer, die ihn ihr schweigen,
Rühren sich wieder in den tausend Zweigen
Und wachen wieder zwischen Tag und
Traum.
© Christine Sollerer-Schnaiter 2020-11-17