Den Atlas mit dem roten Stoffeinband, jahrzehntelang ein Klassiker des österreichischen Schulwesens, habe ich heute noch und benütze ihn sogar, denn es geht oft schneller darin etwas nachzuschlagen als im Internet zu suchen. Stets griffbereit steht er in meinem Bücherschrank. Zudem weiß ich genau, wo ich was finde, aber auch, was ich nicht finde, denn Ländergrenzen und -namen haben sich seit 1968, dem Erscheinungsjahr meiner Auflage, doch ziemlich geändert. Zum Beispiel muss ich immer nachdenken, bis mir einfällt, dass Obervolta jetzt Burkina Faso heißt. Wer aber weiß andererseits heute noch, dass Burkina Faso einst Obervolta hieß?
Als Einzelkind, das nachmittags oft allein war, verbrachte ich viele Stunden mit und quasi in meinem Atlas, der mir Informationen bot, aber zugleich Reiseführer und Traumbuch war. Er führte ein kleines Mädchen durch die große, weite Welt, und das hat bei ihm genauso wie bei mir deutliche Spuren hinterlassen. Mir bescherte er ein solides Wissen um die Geografie und zugleich Pläne für Reisen in ferne Länder. Dem Atlas blieben die Benutzungsspuren.
Die Ecken sind abgewetzt, auf der vierten Seite steht links oben in hellblauem Filzstift mein Mädchenname. Manche Seiten liegen nur noch lose darin, die Europakarte ist mit einem langen Klebestreifen repariert, der jetzt schon gelblich und brüchig ist. Diese Karte hat außerdem da, wo Wien ist, ein Loch, denn ich pflegte mit dem Zirkel dort einzustechen, um Entfernungen zu vergleichen. Viele andere Orte tragen ebenfalls diese Zirkelspuren, und so kann ich heute noch nachvollziehen, was mich damals besonders interessierte.
Am meisten hielt ich mich in Europa auf, denn das schien mir noch einigermaßen erreichbar. Die Idee, dass man so viel weiter reisen konnte, war mir anfangs noch fremd. Ich kannte zu dieser Zeit außer Österreich nur Ungarn, Italien und Jugoslawien, aber auch nur von Badeurlauben am Plattensee und an der Adria. Die Ahnung, dass da noch viel mehr möglich war, kam später erst auf.
Besonders liebte ich die Mittelmeerkarte, die bunte Karte mit den 50 Staaten der USA und auch die Karten der Antarktis und des Südpolarmeeres. Später las ich jahrelang mit Vorliebe Abenteuer- und Reiseberichte aus diesen Gegenden, von Scott und Amundsen bis zu Shackletons unglaublicher Reise. Die Karten dazu hatte ich ja schon im Kopf.
Und komischerweise hatte ich lange eine innige Beziehung zur Insel Usedom, obwohl ich mir nicht erklären kann, wie ich darauf kam. Usedom zählt ja nicht zu den Traumzielen dieser Erde, und seit ich selbst dort war, kann ich mit Sicherheit sagen, dass Capri schöner ist. Vielleicht war es der eigentümlich schwebende Klang des Namens. Von der Rolle, die die Insel einmal in der Weltgeschichte gespielt hat, wusste ich damals noch nichts.
Oft wundere ich mich bei Quizsendungen, welch unklare Vorstellung viele Leute von den einfachsten geografischen Gegebenheiten haben. Ich habe das alles schon aus meinem Schulatlas gelernt.
© 2022-09-18