Der Apfel fällt …

Theodor Leonhard

von Theodor Leonhard

Story

… nicht unbedingt sehr weit von Theos Apfelbaum. Die Ernte wird in diesem Jahr reichlich und saftig ausfallen. Die Äste hängen weit nach unten. Die schwersten mit den meisten Äpfeln mussten abgestützt werden. Die Äpfel sind nicht besonders süß, um einfach so hineinzubeißen. Aber der Geruch von Apfelkuchen mit Streuseln liegt irgendwie schon in der Luft. Die Aussicht auf frisch gepressten Apfelsaft lässt Theo das Wasser im Mund zusammenlaufen.

Nach einer anstrengenden Herausforderung ist jetzt aber erst einmal eine Pause angesagt. Theo holt sich einen frischen Kaffee und nimmt ein paar leckere Kekse mit in den Garten.

Er sitzt oft mit seiner Frau und seinen Kindern unter dem Apfelbaum. Gleich daneben ist der Sandkasten für die Enkel aufgebaut. Gäste genießen, diesen ruhigen und schattigen Platz abseits von der Straße,

Deshalb steht dort ein länglicher Tisch mit sechs Stühlen. Theo hat also eine größere Auswahl, auf welchen Stuhl er sich setzen kann, um den Kaffee mit den Keksen zu genießen und die erste Seite eines neuen Romans aufzuschlagen.

Theo hat einen ausgesprochenen Liebelingsplatz, wenn er allein unter dem Baum sitzt.

Da bemerkt er gerade noch rechtzeitig, dass an diesem Tag schon etwa 17 Äpfel vom Baum gefallen sind. Er will es vermeiden, dass ein solcher auch ihn trifft. Die Äpfel sind nicht gerade klein.

Ein Blick nach oben zeigt ihm, dass die beiden Äste über seinem Lieblingsplatz voll mit Früchten hängen. Falls er sich darunter setzen würde, wäre die Wahrscheinlichkeit vom noch nicht ganz optimalen Reifegrad der Äpfel zwar nicht höher als 1,17%, dass eine fallende Frucht ihn an irgendeiner seiner empfindlichen Stellen treffen würde. Aber immerhin: Mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit muss er rechnen.

Die Stelle genau über dem Stuhl gegenüber ist auf den ersten Blick nicht ganz so stark befruchtet. Aber Theo weiß, dass genau hier der Baum am höchsten nach oben gewachsen ist. Die Früchte sind von unten nicht zu sehen. Und wenn von so weit oben ein Apfel herunterfallen sollte, dann wäre das besonders schmerzhaft.

Der Kaffee ist inzwischen zwar noch nicht ungenießbar lauwarm, aber auch nicht mehr richtig heiß. Aber Theo kann sich immer noch nicht entscheiden, welcher Stuhl für ihn in dieser speziellen Situation am besten geeignet ist.

Stuhl für Stuhl bedenkt er mit sorgfältig die Möglichkeit eines Apfel-Abfalls. Schließlich beschließt er, sich jetzt zu entscheiden. Gerade will er sich selbst mit erhobenem Zeigerfinger seine Entscheidung bekannt geben, da fällt ihm 1,50 m entfernt von jeder Sitzgelegenheit ein Apfel auf den Kopf. Weil ein Apfel selten allein fällt, wenn einmal ein Ast in Bewegung geraten ist, verdreht ein zweiter ihm auch noch seinen erhobenen Zeigefinger, sodass er noch nicht einmal mehr seinen inzwischen kalten Kaffee trinken kann.

Und die Moral von der Geschicht: Der Apfel fällt, wohin er will. Und wenn Du Dich ewig nicht entscheiden kannst, verpasst Du das Beste im Garten und im Leben.

© Theodor Leonhard 2021-09-07

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