Der Apfel fällt vom Stamm.

Fabian Ganauser

von Fabian Ganauser

Story

Kaum zu glauben, dass mitten in dieser kahlen, lebensfeindlichen Landschaft ein Apfelbaum wächst. Mutterseelenalleine steht er da, seit Jahrzehnten fest im Erdreich verwurzelt, direkt an einer steilen Felswand. Groß und kräftig ist er, aber obwohl er sich bester Gesundheit erfreut, trägt er nur zwei Früchte. Zwei rote Äpfel.

Einer davon ist etwas reifer als der andere, fruchtig, saftig, frisch. Direkt über der Felswand schwebt er, direkt am Abgrund, nur durch den schwachen Stängel mit dem Baum verbunden.

„Jetzt ist er reif genug“, denkt der Apfelbaum offenbar und lässt den Apfel fallen, um ihm ein eigenes Leben zu ermöglichen. Der kleine Apfel fällt. Er stürzt hinab in die Tiefe. Mehrere hundert Meter. Unten angekommen, zerschellt er in tausende Einzelteile, die sich meterweit um die Absturzstelle verteilen. Der Apfel ist tot. Der Versuch seines Vaterbaums, ihm ein eigenes Leben zu ermöglichen, ist gescheitert.

War es denn überhaupt ein Versuch? Ich, der diese tragische Szene mitangesehen hat, sehe das anders. Der Apfelbaum wollte seinem Sohn gar kein eigenes Leben ermöglichen. Er wusste ganz genau, was passieren würde, wenn er ihn abwirft. Er wusste, dass es den Apfel zerschmettern würde. Der Abwurf war ein Attentat, ein brutales obendrein.

„Selbst schuld“, scheint der Apfelbaum hämisch lachend dazu sagen. „Warum musste er auch so weit weg von meinem Stamm wachsen? Wäre er näher bei mir geblieben, wäre das nicht passiert.“

Ich muss ihm widersprechen. Der Vaterbaum ist schuld. Er hat den kleinen Apfel einfach losgelassen, mehr noch, er hat ihn rücksichtslos ins Leben hinabgeworfen. Der Apfel war darauf zwar völlig unvorbereitet, wird aber wahrscheinlich anfangs geglaubt haben, dass der Baum schon nichts tun werde, was ihm schaden könnte. Viele Äpfel glauben das von ihren Bäumen, bis sie eines Besseren belehrt werden. Und manche Bäume nutzen das Vertrauen ihrer kleinen Äpfel aus, um ihnen zu schaden. Warum sie das tun, das weiß ich nicht, aber ich habe es schon oft beobachtet.

Bei Birnen und ihren Mütterbäumen verhält es sich übrigens anders, aber die soll man ja bekanntlich nicht mit Äpfeln vergleichen.

© Fabian Ganauser 2021-06-22

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