von Wolfgang Broer
Ich bin sehr müde, Vincent, bin es lange schon. Es wird mir alles schwer und immer schwerer, sodass mein Kopf den Arm als Stütze braucht. Die Tage schleppen sich dahin, sie sind nur Mühsal mir und Last.
Die Lider drücken schwer mir auf die Augen: Sie sahen Körper, die zerfielen und verfaulten und heile, helle Seelen, die die Finsternis zerbrach, Ich habe zu viel an Leid und Schmerz und Tod gesehen.
Und meine Ohren hatten viel zu hören, zu ertragen: Ein krankes Herz, das stolperte und ängstlich schlug, das Rasseln in der aufgeblähten Lunge, und oft genug den letzten Atemseufzer.
Die Lippen sind mir schmal und dünn geworden, der Mund verschlossen, bloß ein bittrer Strich. Ich glaub‘, das kommt vom Sagen-Müssen und vom Verschweigen-Wollen, das mir lieber war.
Ich hatte keine Antwort auf die Frage: „Warum, Herr Doktor, warum ich?“ Warum hat dieser Schöpfergott zum Körper, diesem Wunder, den Schmerz so leichthin beigefügt?
Ich hab‘ geschrieben und ich leide heut‘ noch dran: Im Mitleid täuschen wir uns leider selbst. Wir lieben doch nur unser Leiden. Und frage mich: Ist Mitleid möglich ohne Mitleid mit uns selbst?
Nein, ich beklag‘ mich nicht, ich hab es so gewollt. Ich hab‘ mir den Beruf des Arztes selbst erwählt. Ich wollte helfen und auch heilen, und habe wenig, ja fast nichts geschafft.
Ich bin gescheitert und ich mache weiter, als wär‘ ein neuer Tag auch wirklich neu. Ich danke dir, mein Freund, dass du die Trauer teilst, die mit uns immer geht als dunkle Schwester.
(Gedanken zu Van Goghs „Bildnis des Dr. Gachet)
© Wolfgang Broer 2022-10-04