Am Abend nach ihrer ersten Begegnung schreibt Mirjam in ihr Tagebuch: Ich kehrte in meine Heimat zurück und befinde mich nun an dem Ort meiner größten Albträume. Vor meiner Ankunft spürte ich eine gewisse Angespanntheit und ganz gewiss keinen Grund zum Lachen. Das änderte sich, als mir Dagmar begegnete. Bevor ich sie sah, hörte ich bereits ihr Lachen durch den Raum klingen. Ich war auf der Stelle verzaubert und eilte ihr entgegen. Es war Liebe auf den ersten Blick und beim ersten Hören.
Die nächsten beiden Tage sind mit Besichtigungen gefüllt. Es bleibt kaum Zeit für persönliche Verabredungen. Am Freitag sehen sich alle wieder. Treffpunkt ist die Talmud Tora Schule im ehemaligen jüdischen Viertel der Stadt. Mirjam freut sich, dass Zahra und Marie, zwei afghanische Mädchen, ihre Lehrerin begleiten.
Nach einer Führung durch die Schule werden sie alle in den Festsaal gebeten. An bereitgestellten Tischen mischen sich die Generationen. Junge Menschen stellen den ehemaligen Hamburgerinnen und Hamburgern Fragen zu deren Überleben. Mit Papier und Stift ausgerüstet protokollieren sie alles für den Unterricht. In der nächsten Geschichtsstunde werden sie ihren Klassenkameraden von diesem besonderen Einsatz berichten.
„Darf ich dich um etwas bitten?“, fragt Mirjam nach dieser Fragestunde. Mirjam, ihre Schwester Susan und die neuen Hamburger Freunde haben in einem Restaurant Platz genommen. Die Frage kommt nicht unerwartet. Das Haus, in dem die Großeltern gewohnt haben, ist nur einen kurzen Fußweg entfernt. Die Straße hat den eigentümlichen Namen: Durchschnitt. Diese kurze Straße wurde 1858 als geschützter Wegdurchlass zwischen zwei parallel zueinander laufenden Straßen geschaffen. Man würde heute von einer reinen Anliegerstraße sprechen. Auf dem Weg dorthin passieren sie eine Bäckerei. Der Duft von Kaffee und Zimt steigt ihnen in die Nase. Wie sehr sie dieser spezielle Geruch an die Großeltern erinnert, können ihre Begleiter nur erahnen.
Es ist nicht mehr das Haus, in dem das kleine Mädchen zu Besuch war. Wie viele andere Häuser war es den Bomben des II. Weltkriegs zum Opfer gefallen. An die Stelle des alten ist ein neues getreten. Die Hausnummer 8 ist geblieben. Zur Freude aller erinnern Stolpersteine daran, dass Mirjams Oma Frieda und ihr Opa Emil Josephi hier einst gewohnt haben.
© Dagmar Lücke-Neumann 2025-01-20