Der Berufstätige

Birgit Hlavka

von Birgit Hlavka

Story
Im wienerischen Parlament 2035

Er ist Anwalt. Er hatte eine gut laufende Kanzlei und fast schon einen Namen, aber eben nur fast. Der drohende Zusammenbruch der Wirtschaft kam dazwischen. Seine erste Frau hat ihn vor sieben Jahren verlassen, mit den Kindern. Er sei zu viel in der Arbeit gewesen und hätte nie Zeit für die Familie gehabt. Dabei hatte er alles nur für seine Familie gemacht! Irgendwoher musste ja das Geld kommen, von dem sie lebten. Nun ist er mit seiner Sekretärin verlobt, aber das Loch, dass seine Familie hinterlassen hat, wird sie nie füllen können. Er ist es gewohnt zu sprechen, gut zu sprechen, überzeugend zu sein. Und in seinen Augen ist er hier der einzige, der auch wirklich etwas bewirken könnte. Daher hat er gleich am Anfang die Leitung der Konferenz an sich gerissen. Niemand hier im Raum hat Einspruch erhoben. Es ist maßlos frustrierend mit diesem willkürlich gewählten Haufen. Er ist mehr Disziplin gewohnt von seiner Arbeit, mehr Struktur und klare Vorgehensweisen. Das hier ähnelt von Zeit zu Zeit einem Kindergarten. Immerhin hat er schon am Abend des ersten Tages dafür gesorgt, dass nun die Teilnehmenden die Hand heben und erst sprechen, wenn er sie aufruft. Auch gibt es zu jeder dritten Stunde eine Sprechrunde, in der reihum jeder zu Wort kommen kann. Dafür wird ein leeres Käsepapier herumgereicht und jeder der es hält, darf kurz sprechen. Selbst hier gibt es Teilnehmer, welche das Papierchen jedes Mal nur stumm weitergereicht haben. Es ist wirklich frustrierend! Zumal er gut darin ist, ein Anwalt zu sein… aber von Wirtschaft hat er im Grunde keinen blassen Schimmer. Die letzten Jahre standen die Trennung und die neue Verlobung im Vordergrund seines Interesses. Trotzdem ist er gut darin, dank seiner Ausbildung, so zu sprechen, als hätte er eine Ahnung. Deshalb wirft er mit Fragen und Worten um sich, die alle im Raum ein klein wenig überfordern. „Wie kann der Sozialstaat die Ungleichheiten bekämpfen? Was ist mit den Schulden? Klimaschutz? Arbeit? Boden? Kapital? Umsätze? Verkauf, Verteilung, Verbrauch? Ökosoziale Marktwirtschaft. Bruttoinlandsprodukt…“ In seinen Augen zweifelt in diesem Raum keiner sein gespieltes großes Wissen an. Aber er merkt schon auch selbst, dass es nicht wirklich eine Lösung mit sich bringt, nur mit Fachbegriffen zu posaunen. Aber er will sich unter keinen Umständen einer Blamage unterziehen. Immer wieder ruft jemand laut „Stopp“ und bringt ihn dazu für eine Weile zu schweigen. „Du überforderst!“, ist auch ein Satz, den er immer wieder zu hören bekommt. Er hingegen tut sich schwer diese Kritik anzunehmen. Immerhin ist er es gewesen, der die einigermaßen angenehme Gesprächskultur im Saal eingefordert und erarbeitet hat. Ein wenig mehr Dankbarkeit wäre in seinen Augen definitiv angebracht. Auch die durchaus wichtige Essenseinteilung ist auf sein Wirken hin entstanden. Und er war der Erste gewesen, der am ersten Tag gesprochen hat, nachdem sich die Teilnehmenden für 10 Minuten lang, mit gerunzelten Augenbrauen, still gemustert hatten. Wahrscheinlich würden sie ohne ihn noch immer schweigen. „Die Konferenz ist hiermit eröffnet“, waren seine ersten Worte gewesen. Und dann hat er einen Ich-tue-so-als-wüsste-ich-Bescheid-Wortschwall nachgeschickt. Wie soll eine Lösung entstehen, wenn niemand die dafür notwendigen Fachbegriffe auf den Tisch wirft? In seinen Augen ist der Weg zur Lösung ganz klar. Nur macht niemand mit und er hat im Grunde auch keine Ahnung.

© Birgit Hlavka 2024-02-08

Genres
Romane & Erzählungen
Stimmung
Herausfordernd, Komisch, Hoffnungsvoll, Inspirierend