Der betrunkene Autofahrer

Michelle Gaus

von Michelle Gaus

Story

„Jason Harrison.“ Es dauerte einen Moment, bis Jason verstand, dass er gemeint war. Er konnte unmöglich sagen, wer es in diesem Raum am meisten verdient hatte, einen Teil seiner Reue loszuwerden. Auch wenn sich Jason sicher war, dass er keine zweite Chance verdient hatte, war ihm klar, dass er diesen Versuch der Familie schuldete, der er damals alles genommen hatte.

Er hatte die Hälfte seines Lebens im Gefängnis gesessen. Doch die Gefängnisstrafe war nicht einmal annähernd so schlimm wie die Schuldgefühle, die ihn seit dieser verhängnisvollen Nacht plagten. Er konnte nicht beschreiben, wie sehr er sich wünschte, an diesem Abend nicht betrunken ins Auto gestiegen zu sein.

Jason war im Gefängnis trocken geworden, aber davor war er ständig betrunken gewesen. Bereits in früher Jugend war er dem Alkohol verfallen und nicht davon losgekommen.

Die Journalistin wiederholte seinen Namen und Jason erwachte aus seinem Schockzustand. Er konnte hören, wie eine Frau laut schluchzte. Es war die Mutter des Jungen, den er damals überfahren hatte. Sie selbst war Teilnehmerin, wahrscheinlich in der Hoffnung, ihren Sohn vom Nachtspaziergang abhalten zu können. Jason hatte ihr einen Brief geschrieben und ihr mitgeteilt, dass er an der Aktion teilnehmen würde und wie leid es ihm tat. Er hatte ihr bestimmt schon tausend Briefen geschrieben. Sie hatte ihm zwar nie zurückgeschrieben, aber er hatte sie schon zu Beginn der Veranstaltung entdeckt. Sie jetzt vor Hoffnung und vor Schmerz weinen zu sehen, ließ sein Herz schwer werden. Aber es bestärkte ihn auch. Er hatte nur eine Chance.

Zielstrebig lief er die kleine Treppe zur Bühne hinauf. Daniel Frank bat ihn, in die Box zu treten und ihm das Datum des Tages zu nennen, an dem er gerne landen wollte.

Dann ging alles ganz schnell und Jason war um zwanzig Jahre jünger. Er fand sich neben seinem Wagen wieder und spürte, wie schwummrig ihm war. Wie hatte er damals nur so in den Wagen steigen können? Er taumelte einen Schritt vorwärts, griff nach seinem Smartphone und rief sich ein Taxi. Der gelbe Wagen hielt wenig später neben ihm und Jason stieg ein. Sein Herz pochte wie wild.

Jason brach in Tränen aus, als das Taxi an dem Jungen vorbeifuhr, der vor mehr als zwanzig Jahren eigentlich durch Jasons Hand ums Leben kam. Er sah ihm dabei zu, wie er im Licht der Straßenlampe schlenderte. Lebendig. Und als sich ihre Blicke trafen, wurde Jason wieder zurück in die Gegenwart gezogen.

Er saß auf der Couch seiner Wohnung. Die Wohnung, die ihm sein Bewährungshelfer besorgt hatte. Aber warum war er wieder hier? Es waren noch dieselben Schuldgefühle, die auf Jasons Schultern lasteten, nur stellte er sich dabei das Gesicht eines Mädchens vor. Denn Jason hatte damit zwar den Jungen gerettet, doch nicht das eigentliche Problem seiner Alkoholsucht bekämpft. Eine Woche später war er doch wieder betrunken ins Auto gestiegen und hatte ein junges Mädchen auf dem Heimweg angefahren. Sie war auf der Stelle tot.

© Michelle Gaus 2022-08-30