von Sonja M. Winkler
Die U-Bahn ist sein Jagdrevier, und am liebsten hat er die durchgĂ€ngig begehbaren Garnituren der U4. Alle paar Meter beugt er sich zu einer Frau hinunter und raunt ihr ins Ohr, gehen S‘ mit mir auf ein Bier? X-mal hab‘ ich das schon beobachtet. Die Frauen sagen ausnahmslos Nein und werfen ihm einen Blick zu, der nicht schwer zu deuten ist. Mich belustigt das. Er ist ein harmloser Kauz. Sein psychiatrisches Störungsbild ist wahrscheinlich nicht so harmlos.
Er hat immer dasselbe an. Lederjacke, zerschlissene Jeans, durchgewetzt und oberhalb der Knie eingerissene Stellen, zerfranste Schlitze, durch die behaarte Haut sichtbar ist. Wenn das fadenscheinige Gewebe rund um die Oberschenkel weiter einreiĂt, dann wird er bald in einer kurzen Hose dastehen. Aber ein, zwei Jahre, schĂ€tz‘ ich, werden die Jeans schon noch durchhalten.
Er ist eine stadtbekannte GröĂe. Im Netz finden sich unzĂ€hlige EintrĂ€ge von belĂ€stigten Frauen. Die Heute-Zeitung hat ihm einen Artikel gewidmet. Ich frage mich, ob er die Frauen nach bestimmten Kriterien aussucht, etwa Alter oder AttraktivitĂ€t. Wenn ja, dann muss ich mich damit abfinden, dass ich in diesen Kategorien nicht entspreche.
Einmal erhielt ich dann doch eine Bier-Einladung. In der U-Bahn war er wie immer an mir vorbeigegangen, obwohl ich diese rot-weiĂ-gewĂŒrfelte Einkaufstasche auf dem SchoĂ hatte. Wenigstens sie ist ein wahrer Blickfang.
Ich ging dann meiner Wege. Als ich Stunden spĂ€ter mit der U-Bahn wieder nach Hause fuhr, sah ich ihn (schĂŒtteres, brĂŒnettes Haar, aufgeschlitzte Jeans) auf dem gegenĂŒberliegenden Bahnsteig. Zweimal am selben Tag war ich ihm noch nie begegnet. Bevor die U-Bahn in die Station einfuhr, schallte die gut eingeĂŒbte Frage ĂŒber die Gleise zu mir herĂŒber: Gehen Sâ mit mir auf ein Bier?
Er ist schon oft GesprĂ€chsthema unter meinen Freundinnen gewesen. Eine von ihnen kennt eine Frau, die einmal Ja gesagt hat. Da sei der Ărmste ganz verdattert gewesen, habe gestammelt, er hĂ€tte keine Zeit, am nĂ€chsten Tag vielleicht. Dann habe er die Flucht ergriffen und sich ganz schnell zum Ausstieg begeben.
Es gibt auch Zeiten, da verschwindet er von der BildflÀche.
Eines Tages lĂ€uft mir S., eine Bekannte, ĂŒber den Weg. Sie arbeitet in einer psychiatrischen Klinik und plaudert nur selten aus dem NĂ€hkĂ€stchen, aber manchmal vergisst sie die Ă€rztliche Schweigepflicht. Stell dir vor, sagt sie, unlĂ€ngst kommt ein Typ in die Tagesklinik und sagt, er möchte etwas gegen seine Störung tun. â Was fĂŒr eine Störung?, frag ich. â Vielleicht ist er dir ja schon aufgefallen, fĂ€hrt sie fort. An sich intelligent, der Mann, sagt sie, ein abgebrochenes Studium, aber ein Sonderling. Er wĂŒrde, sagt er, seit er seinen Job verloren hat, jeden Tag U-Bahn fahren und Frauen anspre- ⊠und fragen, ob sie mit ihm auf ein Bier gehen, fall ich ihr ins Wort.
Daraufhin sieht sie mich groĂ an. Woher weiĂt du âŠ?
Kann gut sein, dass die Therapie FrĂŒchte getragen hat, denn der Bier-Kavalier hat sich seitdem rar gemacht.
© Sonja M. Winkler 2022-06-21