von Tristan Blau
‚Seltsam‘, dachte sich Vincent, als er den Briefkasten öffnete. Zwischen den üblichen weißen Briefumschlägen stach ein weinroter Umschlag mit einem Tulpensiegel aus goldenem Siegellack hervor. Abgesehen von dem Siegel waren auf dem Umschlag keine weiteren Informationen zu finden. Er ging in die Küche, wo seine Mutter das Mittagessen vorbereitete.
„Ich habe die Post reingeholt. Die meisten Briefe sind für Papa, aber da war noch das hier.“
Vincent hielt seiner Mutter den Brief vor. Sie nahm ihre Brille ab und presste ihre Augenlider zusammen, um einen genaueren Blick auf den Brief werfen zu können. Nach einigen angestrengten Blicken sagte sie raunend:
„Keine Ahnung, was das ist. Steht ein Absender drauf?“
„Nein, nichts. Nur dieses seltsame Siegel. Wer macht denn heutzutage noch so etwas?“
Seine Mutter setzte ihre Brille auf und wandte sich ab, um sich wieder der Kürbissuppe zu widmen. Nach kurzem Schweigen begann sie zu sprechen:
„Ach, weißt du, die Leute sind verrückt geworden. Heute beim Einkaufen habe ich es wieder gemerkt. Es wird gehamstert, was das Zeug hält. Im Supermarkt sind ganze Gänge leergeräumt. Ich meine, klar… die Lebensmittel werden teurer wegen der weltweiten Aushagerung, aber die Leute können ja nicht einen ganzen Lebensvorrat für ihre Familie hamstern. Es wäre viel klüger einen Garten anzulegen und sich zumindest teilweise selbst zu versorgen. Außerdem wird sich das ganze sowieso wieder legen, sobald wir endlich…“
Vincent folgte dem Monolog seiner Mutter nur sporadisch und warf vereinzelt ein „mhm“ ein. Er hatte mittlerweile das Siegel gebrochen und seine Aufmerksamkeit dem Inhalt des Briefes gewidmet. Es war ein Gedicht. Aufgeregt steckte Vincent den Brief in seine Hosentasche, zerknüllte den Umschlag und warf ihn an seiner Mutter vorbei in den Papiermüll.
„… von daher mache ich mir gar keine Sorgen, dass alles wieder in Ordnung sein wird, wenn wir endlich… Alles klar, Vincent?“, fragte seine Mutter, nachdem sie das vorbeifliegende Papierknäuel im Augenwinkel bemerkt hatte. Sie sah ihn mit nach oben gezogenen Augenbrauen an und fragte neugierig: „Was steht denn in dem Brief?“
Vincents erster Gedanke war, dass es sich um einen Liebesbrief einer Affäre seines Vaters handeln musste, doch ihm wurde schnell klar, dass dieser Gedanke unsinnig war. ‚Einen Liebesbrief für die Affäre würde man doch nicht in den Briefkasten ihrer Familie werfen‘, dachte er. Es musste sich also um einen Liebesbrief für ihn handeln. Vincent erbleichte. Er stand mit zittriger Hand in der Hosentasche da und hatte lediglich ein schüchternes „gar nichts“ hervorbringen können, bevor er die Treppe in sein Zimmer hochrannte und seine sichtlich verwirrte Mutter in der Küche zurückließ. Als ihr ebenfalls klarwurde, dass es sich bei dem Brief um einen Liebesbrief an Vincent gehandelt haben musste, entspannte sie sich, blickte an die Decke und dachte sichtlich erleichtert:
‚Endlich hat er eine Freundin gefunden.‘
© Tristan Blau 2022-04-12