von Judith Steinbach
Liebevoll strichen meine Finger über den Umschlag. In fein säuberlicher Schrift hatte ich Absender und Adresse darauf geschrieben. Doch dorthin war er nie gekommen. Das Siegel wurde nie aufgebrochen und die Person, deren Name auf dem Umschlag steht, wird niemals erfahren, was darin stand. Mit zitternden Fingern brach ich das Siegel auf und holte den Brief. Es waren drei Bögen Papier, die ordentlich ineinander gefaltet waren. Vorsichtig nahm ich die erste Seite und beim Lesen stiegen die Erinnerung an eine Zeit hoch, an die ich ewig nicht mehr gedacht hatte. Es stand so viel über meine Gefühle und über mich darin, wie ich ewig niemanden mehr über mich erzählt hatte. Doch dieser Person hätte ich davon erzählt. Dieser Person hatte ich auch alles erzählt. Und dann war sie fort. Nicht wirklich fort, doch nicht mehr so nah wie davor. Und ich hatte das Gefühl jemanden verloren zu haben. Ich wollte ihr so wie früher erzählen wie es mir geht, doch wir sahen uns irgendwie nie und wenn dann nicht lang genug, um wirklich viel zu reden. Und deshalb hatte ich diesen Brief geschrieben. Und ihn mit all meinen Gedanken und Gefühlen gefüllt, die ich mit niemandem teilen konnte. Doch mit dieser einen Person wollte ich sie teilen. Mit jedem Wort wurde mein Herz ein wenig schwerer bei der Erinnerung, aber auch weil ich merkte, dass sich seitdem nichts geändert hat. Meine Gedanken und Gefühle waren noch immer die Gleichen- Obwohl ich, zu dem Zeitpunkt, als ich den Brief geschrieben habe, mir nichts mehr gewünscht hatte, das dies aufhören würde. Doch nichts hatte sich daran geändert und ich habe es mit niemandem bis jetzt geteilt. Obwohl es damals mein größter Wunsch war. Ich weiß nicht einmal mehr, wieso ich diesen Brief nie abgeschickt habe. Ich glaube, es war irgendwie eine Angst da. Auch wenn ich nicht weiß, wovor und wegen dieser Angst habe ich den Brief nie abgeschickt. Doch jetzt wollte und konnte ich es nicht mehr für mich behalten, jetzt wo ich sehe wie lange ich das schon tue. Also griff ich zu meinem Handy und ging in mein Telefonbuch. Als ich merkte, wie weit unten ihre Nummer war, wurde mir ganz flau im Magen und als ich sie anrief, hätte ich am liebsten wieder aufgelegt. Es klingelte einmal, zweimal, vor dem dritten Klingeln hob sie ab. „Hallo Lia! Wie geht es dir?“, fragt sie und noch während sie das sagt, schießen mir die Tränen in die Augen und ich blinzle hektisch. „Um ehrlich zu sein geht es mir scheiße und um ehrlich zu sein schon länger“, sage ich und eine einzelne Träne läuft über meine Wange. „Hey, du weißt du kannst mir alles sagen!“, sagte sie – und plötzlich fühlte es sich an, als wäre die Zeit nie vergangen.
© Judith Steinbach 2025-04-03