Afghanistan ist ein Land, von dem wir in Europa kaum Kenntnisse hatten. Erst durch den Einmarsch sowjetischer Truppen flimmerten Fernsehnachrichten ĂĽber den Widerstandskampf der Afghanen in unsere Wohnzimmer. Ich erinnere mich nicht daran, jemals etwas ĂĽber diese Kultur gelesen oder gehört zu haben. Fasziniert sah ich Männer mit Turbanen und langen Kleidern auf Lastwagen sitzen mit grimmigen GesichtszĂĽgen und langen Bärten. Eine völlig fremde Welt starrte mich aus dem Fernseher an. Kurze Zeit später suchten wir fĂĽr meinen Vater, der durch einen Schlaganfall gelähmt war, eine Pflegekraft. Es läutete an der HaustĂĽre und vor uns stand ein junger Mann im Alter von ungefähr zwanzig Jahren. Er hieĂź Amir und sprach sehr gut Deutsch. Er erzählte uns, dass er Afghane sei, studiert habe und seine Familie im Exil in Pakistan lebe, bis er sie zu uns nach Europa bringen könnte. Amir, westlich gekleidet, rasiert, liebenswĂĽrdig, hilfsbereit. Wie passte das zu den Bildern, die wir zu sehen bekamen. Meine Neugierde, mehr ĂĽber dieses Land zu erfahren, fĂĽhrte mich im Jahr 2003 zu Seierstads Buch “Der Buchhändler aus Kabul”. Ich stolperte buchstäblich darĂĽber. Schon nach den ersten sechzig bis siebzig Seiten war ich von den Schilderungen gefesselt. Ich wusste nicht, was eine Burka ist, geschweige denn, dass mir damals die Begriffe Scharia und Taliban etwas sagten. Fassungslos machten mich die Berichte ĂĽber die Grausamkeiten gegenĂĽber den Menschen, besonders aber ĂĽber die entrechteten Frauen. Der Buchhändler Sultan Khan lebt seiner gesellschaftlichen Tradition verpflichtet, jedoch versucht er vorsichtig, seinen Frauen bescheidene Rechte einzuräumen. Eine seiner Töchter studierte und widersetzte sich lange einer arrangierten Ehe. Dieses Land ist arm, aber auch wieder reich an Kultur, das zuerst die Besatzer mit Bombenhagel traktierten, dann die Taliban vergewaltigten. Kein Wunder, dass so viele wagten, dem Wahnsinn zu entkommen. Immer tiefergehend bemĂĽhte ich mich Afghanistan zu verstehen, fast atemlos verschlang zahlreiche BĂĽcher, darunter Hosseinis “Drachenläufer” und „Tausend strahlende Sonnen“.
Ich habe Geschichte unterrichtet. Seit diesem Zeitpunkt wollte ich unbedingt meinen Schülern islamische Kulturkreise näher bringen. In keinem Geschichtsbuch in der Schule konnten sich Schüler über dieses Thema informieren, und ehrlich gesagt, auch wir Lehrer waren sehr unbedarft.
Heute traue ich mir zu, einen Paschtunen von einem Hazara äußerlich zu unterscheiden, aber worin ihre Unterschiede liegen, verstehe ich nicht. Der lange, grausame Krieg hat die Menschen Gewalt gelehrt, die für sie in allen Lebensbereichen zum Alltag gehört. Würde es mehr Männer wie Sultan Khan wagen, neue Lebensstrukturen zu akzeptieren, dann hätten die Afghanen eine Chance. Mehr als die Hälfte der Afghanen ist nicht alphabetisiert. Wie sollen sie -ungebildet -sich in unserer Kultur zurechtfinden? Ich bleibe ratlos zurück!
© Sonja Runtsch-Dworzak 2021-10-24