Der Charakter entscheidet

Anton hatte sich schon als Kind einen Hund gewünscht. Einmal äußerte er zaghaft diesen Wunsch. Seine Eltern lehnten ab und meinten, ein Hund sei mit der Lebensweise der Familie unvereinbar. Als er nach erfolgreicher beruflicher Laufbahn aufs Land zog und sich selbständig machte, war Anton Mitte zwanzig.

Sein Ortswechsel dürfte seiner hübschen Angebeteten namens Jasmin die Augen geöffnet haben. Sie zeigte mehr Interesse an ihm denn je und bekundete die Absicht, zu ihm ziehen zu wollen. Ohne eigenen fahrbaren Untersatz ließ sich das für sie nicht gleich verwirklichen. Da waren ihr Job und die geplante Fortbildung. So ergab sich eine Fernbeziehung. Distanz: eine knappe Fahrstunde mit dem Auto.

Die Zeit verging. Eines Tages verkündete Jasmin, sie wolle sich einen Hund anschaffen. Hunde seien ja so lieb und sie habe immer einen gewollt. Anton fuhr zu ihr in die Stadt. Gemeinsam begaben sie sich in ein Tierheim. Jasmin entdeckte allerlei arme, liebe Hunde und war dabei, ihre Entscheidung zu treffen. Da fiel Antons Blick auf einen struppigen, hellbrauen Hütehund mit langem Fell, der im Freien lag und abgemagert schien.

Ja, das sei die Wilma. Sie sei seit drei Monaten da und so traurig, dass sie kaum Nahrung zu sich nehmen will. Eine überforderte Familie in beengten Verhältnissen musste sich schweren Herzens von dem Hund trennen. “Nimm die Wilma, das ist ein besonders charaktervolles Tier!“ riet er Jasmin. “Aber, die ist ja groß und ziemlich alt!

Wilmas Blick konnte man einfach nicht widerstehen. Trauer, Liebe, Klugheit, Treue, Wille, Hoffnung. Was ein Augenpaar ausstrahlen kann! Nach den Regeln des Tierheimes konnten es die neuen Besitzer mit dem Hund versuchen. Sollte es nicht klappen, durfte er innerhalb von drei Wochen wieder zurückgebracht werden.

Es klappte mit dem Hund. Anton blieb ein paar Tage in der Stadt. Spaziergänge zeigten, dass der Hund keine merklichen seelischen Schäden erlitten hatte. Der Appetit nahm zu, die Lebensfreude kehrte wieder. Anton fuhr heim. Er war froh, bald wieder ein glückliches Frauchen mit glücklichem Hund besuchen zu können.

Wenig später kam der Anruf. “Du, also ich weiß nicht… Die Wilma ist zwar so lieb, und es würde schon gut gehen mit ihr. Aber leider ist sie halt doch ziemlich groß. Ich hätte lieber einen kleineren Hund! Also habe ich mich entschlossen, sie wieder zurück ins Tierheim zu bringen.”

Anton ließ alles liegen und stehen und fuhr zu Jasmin. “Das kannst doch nicht machen! Das würde Wilma das Herz brechen!“ rief er. „Dazu kenne ich sie schon gut genug. Und wer würde so mir nichts, dir nichts diese achtjährige Hündin nehmen. Ein Elend!” Jasmin schien das egal. “Jasmin, das ist echt herzlos. Nur weil dir Wilma zu groß ist!”

Anton schnappte den Hund und die Hundeleine und sagte so bestimmt, dass jeder Widerspruch sinnlos war: “Wilma kommt jetzt mit mir und bleibt! Sie hat Charakter! Mehr als mancher Mensch!” Zu Hause angekommen, überlegte er kurz. Dann löste er seine Verbindung mit Jasmin.