Der Chatroom

Collin Nichol

von Collin Nichol

Story
2020

Es war ein verregneter Mittwochabend, der 1. Juli 2020. Ich saß nach einem normalen Arbeitstag in meinem Kinderzimmer, im Haus meiner Eltern, wo ich vorübergehend wieder wohnte. Naja vorübergehend ist vielleicht nicht korrekt. Seit dem Jobwechsel waren es nun doch auch wieder zwei Jahre, die ich nun schon in der „WG“ mit meinen Eltern lebte. Das Zusammenleben funktionierte recht gut, jeder hatte seinen eigenen Bereich und so konnte man auch ungestört einmal alleine sein, wenn man das wollte. Für diesen Abend hatten wir uns bereits gute Nacht gesagt, die Eltern waren wohl auch schon im Bett und schliefen tief und fest.

Ich saß also auf meinem Bett und starte in mein Handy hinein. Ob ich wirklich sollte? Nein. Doch. Ohhh. Was soll ich machen? Was würde es für Konsequenzen geben? Immer und immer überkam mich das Gefühl von Neugierde und Rebellion, etwas zu machen, was der Weltanschauung meiner Eltern widersprach und für mich in Ordnung war. Immerhin ist es ja mein Leben.

Schon lange, über Jahre hinweg, hatte ich dieses Gefühl in mir. Das Wissen. Den Verdacht. Dann verwarf ich doch wieder alles, unterdrückte es und redete mir ein, dass das alles Blödsinn sei und außerdem ja sowieso nicht erlaubt. Was würden meine Eltern sagen, meine konservative Familie? Meine Freunde? Am Ende würde ich sicher alleine dastehen, dachte ich. Und dann?

Ich fasste meinen ganzen Mut zusammen, atmete einmal tief ein und aus und tippte dann auf meinem Handy auf „anmelden“. Und schneller als mir lieb war, war ich nun tatsächlich in diesem Chatroom. Ich staunte nicht schlecht, als ich die vielen User sah, die zu dieser Uhrzeit online waren. Der Chatroom war sehr übersichtlich aufgebaut und ich fand mich sehr schnell zurecht. Plötzlich, unerwartet, hatte ich auch bereits die ersten Nachrichten. Wer ich sei und woher ich komme, wurde ich da gefragt. Sehr zurückhaltend und in Angst meine wahre Identität könne zum Vorschein gelangen und meine Eltern informiert werden, druckste ich ein wenig herum und gab dann einen Usernamen bekannt.

Eine Person im Chatroom fiel mir als besonders nett und sympathisch auf. Ich dachte, dieser Person könne ich sicher vertrauen. Auch das Profilfoto fand ich sehr ansprechend und mir wurde in dem lockeren und unkomplizierten Chat ein wenig die Angst genommen. Nach einer guten halben Stunde endete der Chat. Ich meldete mich wieder ab, atmete tief durch, lehnte meinen Kopf gegen die Wand und dachte mir: „Ja, dann ist es wirklich so. Dann ist es jetzt für mich ok und ich akzeptiere es. Ich bin schwul!“


© Collin Nichol 2023-07-25

Genres
Romane & Erzählungen, Biografien
Stimmung
Hoffnungsvoll, Inspirierend, Reflektierend