Der Dankbarkeitsstein

Lilly Frost

von Lilly Frost

Story

Da ist er ja. Ich dachte schon, ich hätte ihn verloren. Die glatte Oberfläche schmiegt sich kühl in meine Handfläche. Ich ziehe ihn aus meiner Jackentasche und betrachte ihn im Sonnenlicht, fahre mit dem Daumen die feine Marmorierung entlang. Ein Türkis, mein Geburtsstein. Vor Jahren hat eine liebe Freundin ihn mir geschenkt.

„Was ist das?“, fragte ich sie damals neugierig.

„Ein Dankbarkeitsstein“, erklärte sie mir.

Ich hob erstaunt eine Augenbraue. „Davon habe ich noch nie gehört.“

„Darf ich offen sein?“, fragte sie mich.

Ich nickte. „Natürlich. Unbedingt.“

„Du jammerst zu viel“, schmetterte sie mir ohne Umschweife entgegen.

Ich schluckte. „Ich … ähm …“ Mir fehlten buchstäblich die Worte. Was meinte sie damit? Ich, eine Motschkerin?

„Nimm es mir nicht übel, aber du beschwerst dich in letzter Zeit über alles. Über deinen Chef. Deine Eltern. Über die viele Arbeit. Darüber, dass alles an dir hängen bleibt. Über deine Figur sowieso. Und jetzt auch noch über die ersten Fältchen.“

Mein Herz setzte einen Schlag aus. Ich schnappte nach Luft, setzte an, etwas zu erwidern und … schluckte eine Entgegnung hinunter. Denn ich begriff, dass sie recht hatte. Ich jammerte zu viel.

„Mir war nicht bewusst, dass ich …“

„Weiß ich doch“, erklärte sie fröhlich. „Deshalb brauchst du einen Dankbarkeitsstein.“

Ich blickte auf das türkise Etwas in meiner Hand und runzelte die Stirn. Wie sollte mir dieses Mineral dabei helfen, mich weniger zu beschweren?

„Es ist ganz einfach“, behauptete meine Freundin. „Du steckst den Stein in deine Jackentasche und trägst ihn den ganzen Tag mit dir herum. Jedes Mal, wenn du ihn berührst, denkst du an etwas, wofür du dankbar bist.“

Ich dachte einen Moment darüber nach. „In Ordnung. Einen Versuch ist es wert.“

Seither liegt der Stein auf dem Nachttisch und erinnert mich gleich in der Früh daran, wie dankbar ich bin. Dafür, dass ich gesund bin. Einen Job habe, den ich liebe. Wunderbare Kinder. Dass meine Eltern noch leben. Dass mein Kühlschrank gefüllt ist. Dass ich hier in Österreich leben darf. Tagsüber wandert er in meine Jackentasche, wo ich ihn mehrmals täglich berühre und sofort an all die Dinge denke, die ich schätze. Irgendwann ist er versehentlich mit einer Übergangsjacke in den Keller gewandert.

Es ist wohl kein Zufall, dass ich ihn gerade jetzt wiederfinde, zu einer Zeit, wo ich mich dabei erwische, dass ich schon wieder jammere. Nirgends kann man hingehen. Mir fehlen meine Freunde. Den bereits gebuchten Urlaub musste ich – Corona sei Dank! – stornieren. Die Kurzarbeit geht mir so was von auf die Nerven!

Ich schaue den Stein an und muss unwillkürlich lächeln. Ich habe immer noch einen vollen Kühlschrank, großartige Kinder, meine Eltern, die in der Nähe leben und ich bin gesund. Und Kurzarbeit hin oder her: Ich habe einen Job. Und unendlich viel, wofür ich dankbar bin!

© Lilly Frost 2020-04-20

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