Der Dirigent

Gerhard Maier

von Gerhard Maier

Story

Der Ruf der Dirigenten ist ramponiert, die Machtgefüge sind nicht mehr zeitgemäß, sagt der Boulevard. Es gibt Übergriffe, sagt so manche Musikerin. Die nicht Betroffenen lassen sich vorsichtshalber auf keine Diskussionen ein.

Auch ich will mich nicht auf Dirigenten-Bashing herunterlassen, darf aber meine Erlebnisse mit Dirigenten zum Besten geben. Beim Studentenchor waren die Chorleiter welche von uns, sie waren nicht autoritär, wir alle bemühten uns gemeinsam. Damals waren die Highlights unserer Auftritte zur Untermalung von Universitätsfeiern und Sponsionen.

Als ich mich als Architekt selbstständig machte, sprach sich herum, dass ich ein Sänger in einem Männerchor gewesen sei, und zwar ein „Zweiter Tenor“. Ein sehr ambitionierter Kirchenchor überredete mich, als Tenor dem gemischten Chor beizutreten. Ich sollte schlussendlich aber nur ein paar Jahre dem “künstlerischen” Druck standhalten können.

Unseren Dirigenten als Chorleiter zu bezeichnen, wäre eine glatte Untertreibung gewesen. Er lebte mit und für die Musik, er wagte sich an schwierige Messen mit Orchester und Solist*innen aus der Stadt, die Auftritte waren Höhepunkte des Gesellschaftslebens.

Die Chorproben waren herausfordernd, insbesondere das Danach. Da entwickelte unser Dirigent einen autoritären, ja diktatorischen Zug und versuchte das letzte, was an Luft noch im Körper verblieben war, aus uns herauszuholen. Keiner durfte nach der Chorprobe um 22:00 Uhr einfach nach Hause, es musste der Zusammenhalt der Truppe geschmiedet werden. Jede Woche wurde ein anderes Chorlokal aufgesucht, um diese für Sponsorentätigkeiten bei der Stange zu halten. Um 1:00 Uhr früh war es in Ordnung, dass man sich von der Truppe entfernte. Oft dauerte es aber viel länger, vor allem beim Dirigenten selbst. Es gab eine Hassliebe zwischen ihm und dem Polizeichef, die in alkoholischen Verfolgungsjagden durch den Ort gipfelte.

Dem Dirigenten war das Wohlergehen seiner Leute ein Anliegen. Bei einem der After-Chor-Events kam zur Sprache, dass ein nach 30 Jahren frisch geschiedener Sänger etwas früher nach Hause müsse, weil er am nächsten Morgen um 9:00 ein Rendezvous in einem Café hätte. Das ließ der Dirigent nicht gelten und ließ den hoffnungsfrohen Freier nicht gehen. Als der Freier zugab, dass er „Bammel“ vor dem Rendezvous hätte, versprach der Dirigent ihn schützend dorthin zu begleiten. Die beiden zechten die Nacht durch. Als sie um 9:00 im Café eintrafen, erhob sich die Dame und ging grußlos weg.

Der Freier hatte das Glück, dass sich dessen geschiedene Gattin seiner erbarmte und ihn wieder zurücknahm. Der Dirigent hatte da weniger Glück. Die Damen, die ihn wollten, wollte er nicht. Die jungen, feschen Solistinnen, die er wollte, bekam er nicht. Das konnte er auch nicht erzwingen, jedenfalls ist mir darüber nichts bekannt.

© Gerhard Maier 2021-01-25