Der Drachenbaum

Sudari

von Sudari

Story

Es war vor 39 Jahren, da bekam ich zum 18. Geburtstag von meinem Bruder und seiner Freundin ein kleines Drachenbäumchen in einer Hydrokultur geschenkt.

Die Geschichte, die ich jetzt erzähle, ist kaum zu glauben, zeigt aber wieder einmal mehr, wie viel große und kleine Wunder sich in unserem Leben zeigen, wenn man nur offen und bereit ist, sie wahrzunehmen. Ich muss zugeben, dass ich den Wert dieses Geschenks mit 18 Jahren noch nicht erfassen konnte, dieses Bäumchen jedoch von Jahr zu Jahr an Bedeutung gewann. Die ersten Jahre stand es relativ unbeachtet, aber dekorativ in meinem Zimmer und als ich mit 24 Jahren von zu Hause auszog, um meine erste eigene Wohnung zu beziehen, fand ich auch dort einen schönen hellen Platz für die Pflanze. Inzwischen war sie um einiges größer geworden. Ich muss dazu sagen, dass ich sie nicht besonders gepflegt habe. Sie bekam nur Wasser und auf einen Hydrokulturdünger habe ich verzichtet. Es wunderte mich schon, dass die Pflanze so unkompliziert zu sein schien, aber ich war jung und ich ließ sie einfach wachsen, wie sie wollte. Sie bog sich natürlich immer zum Licht, weswegen der dünne Stamm schon mehrere Biegungen hatte, da ich sie immer drehte, sobald sie zu krumm wurde. Sie bekam so gut wie nie gelbe Blätter und sah immer gesund aus, obwohl sie außer Wasser und Licht keine weiteren Nährstoffe bekam. Sie überlebte jeden Wohnungswechsel und nach 14 Jahren geschah das Wunder – der einsame Stamm bekam einen weiteren Trieb, der das Gegengewicht bildete zu dem inzwischen 1 Meter hohen Bäumchen. Eine Pflanze, die 14 Jahre überlebt ist ein Wunder, aber dass sie nach so langer Zeit einen zweiten Spross schickt, um den Baum in Balance zu halten, ist schon fast unglaublich. Spätestens nach diesem Wunder war sie meiner bedingungslosen Liebe sicher und ich kommunizierte mit ihr nonverbal. Ich möchte nicht unerwähnt lassen, dass ich sie nach einigen Jahren bereits in einen wunderschönen mit Ornamenten verzierten Übertopf gepflanzt habe, den ich mit Seramis gefüllt habe. Nach weiteren sieben Jahren erschien dann ein ausgleichender dritter Trieb, der den inzwischen 1,30 m hohen Baum erneut ins Gleichgewicht brachte. Dieser Trieb hat letztendlich überlebt, denn ich habe die beiden ersten, etwas schwächeren Triebe abgeschnitten, damit die ganze Kraft in den letzten gehen kann.

Dieser Baum ist heute 39 Jahre alt und für mich grenzt es an ein Wunder, dass er noch lebt und dankbar sein schönes Grün mit mir teilt. Er ist im wahrsten Sinne zu meinem Lebensbaum geworden, der mir jeden Morgen ein Lächeln ins Gesicht zaubert, wenn ich ihn ansehe und dankbar begrüße.

Er ist zum Symbol der Freundschaft zwischen meinem Bruder, seiner Freundin und mir geworden, und ich bin sicher, dass er erst dann geht, wenn auch wir uns alle final verabschiedet haben.

© Sudari 2020-10-21