von Anna Egger
Das Buch, welches mein Leben verÀndert hat, habe ich nie gelesen. Ich habe auf unserem alten Röhrenbildschirm die Disney-Adaption gesehen, abgehackt, wegen der selbstgebrannten DVDs. Aber das hat mir und meiner Schwester gereicht.
Wir haben eine ganze Welt gebaut. Um das staubige Dorf herum, inmitten des blĂŒhenden grĂŒnen Dschungels, haben wir mit den Wölfen und Schlangen gesprochen, uns vor Shirkan, dem Tiger, hinter unserer Couch, einer riesigen Felswand versteckt. Wir waren Mogli und Schanti und Ranschan, deren Eltern, Cousins, die Freund:innen, die ersten Crushes und viele viele mehr. In dieser Welt haben wir die verrĂŒcktesten Streiche gespielt, wenn ich zurĂŒckdenke, höre ich unser Lachen oder die begeisterte Stimme meiner Schwester, wenn sie die Details ausmalt.
Ich glaube nie wieder in meinem Leben habe ich mit so einer Einfachkeit fantasiert.
(Heute weiĂ ich nicht, was ich von dieser Welt denken soll. Eine Imagination ĂŒber ein Indien, das es nicht gibt, ĂŒber ein Nicht-Ăsterreich, obwohl vieles Ă€hnlich funktioniert.)
Einmal habe ich ins Hörbuch reingehört, vor unserem kleinen silber-roten Radio liegend, bevor ich beschloss, dass unsere Version besser war, lustiger, freier. Und doch war es Moglis Geschichte, die Geschichte von dem Jungen, der im Dschungel und spĂ€ter in einem Dorf aufwĂ€chst, welches meine Kindheit verĂ€ndert hat. Kipling und Disney â beide rassistisch, beide problematisch â, haben mir und meiner Schwester eine Welt gegeben, mit der wir erwachsen wurden. In meinem Dschungelbuch habe ich gelernt, in mich als ErzĂ€hlerin zu vertrauen, und darin, dass meine Geschichten gehört werden wollen. Ich fĂŒhlte mich mĂ€chtig, weil ich die FĂ€den spann, weil ich allein wusste, ob all unsere Charaktere am Ende des Tages gut heimkommen wĂŒrden. Dann wieder streikte meine Schwester. âDas löschen wir, oder ich spiele nicht weiter.â Und ich, ich brauchte doch meine Komplizin, meine VerbĂŒndete, eine Besetzung fĂŒr die HĂ€lfte der Figuren.
Ich erinnere mich kaum noch an die physischen Orte. Ja, da war unser Keller, da waren SpielplĂ€tze, StrĂ€nde, an denen wir in unsere Rollen schlĂŒpften, manchmal bauten wir die echte Welt ein. Aber meistens, wenn ich zurĂŒckdenke, sehe ich nichts weiter als die unendlichen GrĂŒnschattierungen des Dschungels gegen das sandgelbe Dorf mit seinen modernen HĂ€usern aus Glas und WeiĂ im morgendlichen Dunst. Ich höre den Fluss rauschen und rieche die Frangipani auf dem Weg zu dem alten verzweigten Baum, der unser Baumhaus auch Jahre spĂ€ter noch trĂ€gt. Dort oben liegen magische Karten, Tigerkrallen, Knochen und andere SchĂ€tze. SchĂ€tze, von denen einzig und allein meine Schwester und ich wissen.
Aber eine Ausgabe von Kipling, nein, nach der muss man woanders suchen.
© Anna Egger 2021-11-27