Der Duft der Briefe

MISERANDVS

von MISERANDVS

Story

Bis zuletzt bestritt Lydia, ihre Briefe an mich je parfümiert zu haben. Von wegen! Eines Tages nahm ich diesen verführerischen Duft beim Lesen wahr. Egal, was sie behauptete: Ihre Briefe dufteten ab da nach ihr. Ob sie sie nun parfümierte oder sie vielleicht bloß vorm Verschicken noch einmal an ihr Herz drückte, und die Buchstabenboten deshalb dufteten, bleibt für immer ungeklärt.

Aber damals war ich irgendwie in der Bredouille. Sollte ich meine Briefe auch bedufteln? Und wenn ja, womit? Ich hatte doch nur mein Anti-Transpirant zum Sprühen. Damit den Brief besprühen? Das konnte nur ins Auge gehen und bei Lydia keinesfalls sinnlich in die Nase. Also ab zum Droger-o-Isten meines Vertrauens. Ich schnüffelte mich durch unzählige Proben, bis ich schließlich einen Duft von Axe fand, der mir gefiel. Mit einem Wattestäbchen trug ich fortan ganz vorsichtig und hauchdünn einen Streifen davon auf jede Seite meiner Briefe auf. Als Lydia und ich einander zum ersten Mal trafen, sagte sie irgendwann mit glänzenden Augen: “Du riechst wie deine Briefe.”

Lydias Briefe duften auch heute, bald 20 Jahre später, immer noch nach ihr. Ich müsste nicht an ihren Duft erinnert werden. Ich muss nur die Augen schließen und in Gedanken mit der Nase über ihre Haut streichen. Wie gut sie duftet in meiner Erinnerung!

In der Milchglas-Flasche Rasierwasser ist noch genug drin, um Briefe für hundert Jahre und mehr zu beduften. Manchmal, wenn ich spät nachts Lydias Briefe lese, tupfe ich einen Tropfen davon an meinen Hals, und ich seufze, wenn sich der Duft an mir mit dem Duft ihrer Briefe langsam vereint und zu etwas lang Verlorenem wird, wenn es über ihren wunderschönen Worten plötzlich nach uns beiden duftet. Wie damals, wenn wir uns aneinander schmiegten, wenn ihr Duft nach meinem fasste und mein Duft nach ihrem, wenn sich die beiden Düfte schon stürmisch küssten, während wir beide einander noch schmunzelnd und verliebt in die Augen sahen und den Moment herbeisehnten, wenn sich unser beider Lippen endlich sanftwarm berühren würden.

Düfte, sie sind dem Herzen immer einen Schritt voraus und übertölpeln geschickt den Verstand. Das Herz hat Gründe, die der Verstand nicht hat, sagt man. Die Nase kennt Gründe, die nicht mal das Herz kennt.

Als ich Lydias Brief lese, auf dem sie mit rotem Lippenstift ihren Kussmund verewigt hat, streich ich mit sanften Fingerspitzen darüber. Ich schließ die Augen, und in Gedanken streich ich mit meinen Fingerspitzen über ihre warmen Lippen, zeichne die Konturen nach, ihr schönes Philtrum, ihre Mundwinkel, weil es kitzelt und sie dann immer schmunzelt, bevor ihr Blick ganz ernst wird, weil die Sinnlichkeit sie wild packt, und sie sagt: “Küss mich! Sofort!”

Als mir schon die Augen zufallen wollen, lösch ich das Licht, drücke einen ihrer Briefe an mein Herz, atme tief ein, seufze laut und sage leise: “Wie gut du duftest, Pollenfee! Wie sehr ich dich vermisse…”

© MISERANDVS 2021-12-29

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