Der Duft der Freiheit

Frank Wallner

von Frank Wallner

Story

An diesem Tag war es kalt und regnerich. Ein typischer Novembertag eben. Mit meiner Schwägerin Katrin ging ich die Hohenschönhauser Straße in Berlin-Weissensee entlang. Der Wind blies uns die gefallenen Blätter der Alleebäume wie geheimnisvolle, flüsternde Wesen um unsere Füße. Unser Ziel war die Besichtigung einer größeren Wohnung für sie und ihre Familie. Meine Frau war in ihrer Wohnung geblieben, hütete unsere kleine Nichte Vivien und wollte alles für einen gemütlichen Fernsehabend vorbereiten. Wir begegneten nur wenigen Leuten bei diesem Schietwetter und waren froh, als wir den in die Jahre gekommenen Berliner Altbau erreicht hatten. Als wir den Hausflur betraten und die ersten Stufen erklommen hatten, wollte ich allerdings schon auf dem nächsten Absatz kehrt machen. Das ganze Haus roch nach altem Bohnerwachs, die hölzerne Treppe knarzte, das Treppengeländer quietschte bedenklich, und die graue Ölfarbe an den Wänden war übersät mit Möbeleinschlagkratern von Umzügen der letzten Jahrzehnte.

Nach einem kurzen Gespräch mit dem Mieter waren wir froh, wieder auf der Straße zu sein. Als wir aus der Haustür traten, kam es mir gar nicht mehr wie ein grauer Novembertag vor, denn irgendwie lag ein besonderer Duft in der Luft. Es war Donnerstagabend am 9. November 1989, so gegen 20.00 Uhr, als wir wieder in die alte Wohnung in der Hohenschönhauser Straße zurückkehrten. In der Eckkneipe gegenüber herrschte reges Treiben. Die Leute tranken und unterhielten sich lautstark. Kein Wunder, dachte ich, es war immerhin ein Tag vor dem ersehnten Wochenende. Was ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht wusste war, dass es ein Wochenende wie keines zuvor werden würde.

Wir wurden von meiner Frau freudig begrüßt und ich vermutete, dass es an der Flasche Rotwein lag, die nur noch etwa zur Hälfte gefüllt auf dem Tisch stand. Im Fernsehen ging gerade die Pressekonferenz mit Herrn Schabowski zu Ende. Darin hatte er verkündet, dass ab sofort und unverzüglich alle Grenzübergänge zu Westberlin und zur Bundesrepublik Deutschland geöffnet werden würden und jeder Bürger der DDR ausreisen könne. Meine Frau sagte mit nur vier Worten: Die Mauer ist auf! Wir konnten es zunächst nicht glauben und vermuteten einen gewaltigen Irrtum. Doch nach kurzer Zeit lief diese Meldung bereits auf allen Fernsehkanälen. Ein Zurück gab es zum Glück nicht mehr.

Es war tatsächlich Wirklichkeit geworden: Die Mauer war gefallen. Den Duft, den ich an diesem Novemberabend in der Luft von Berlin gespürt hatte, war der Duft der Freiheit. Ich danke dir Berlin, du bist eine starke Stadt.

Wir überquerten in den nächsten Tagen mehrmals die Grenzübergänge nach Westberlin und erkundeten eine für uns fremde Welt. Wenn wir uns heute manchmal treffen, unterhalten wir uns oft über diese Tage, die unser Leben verändert hatten. Wann war ich eigentlich das letzte Mal in Berlin? Ich glaube, es ist wieder einmal an der Zeit, dieser wundervollen Stadt einen Besuch abzustatten.

© Frank Wallner 2022-02-10

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