Der EntfĂŒhrer

Anne_Ladgam

von Anne_Ladgam

Story

RegelmĂ€ĂŸig gab es zum Schulanfang die EntfĂŒhrungsgeschichten rund um den Schulweg. Ich las entweder in der Zeitung davon oder die EntfĂŒhrungsgeschichte wurde im Lokalfernsehen mit großem Gruselfaktor ausgestrahlt. Die Kinder berichteten sogar direkt von VorfĂ€llen aus ihrer Schule. Manches war wahr, manches gut erfunden. Da erzĂ€hlten die Kinder von Menschen, die im Auto fuhren und im Vorbeifahren das Geschehen auf der Straße filmten und sie verunsicherten. Um 2007 war das wirklich noch unheimlich, wenn jemand im Vorbeifahren filmte, denn das Smartphone war noch nicht so verbreitet.

Heute denke ich mir, ob damals vielleicht ein Tourist den tosenden Bach gefilmt hat, der durch den Ort fließt und nur zufĂ€llig ein paar Schulkinder hinter die Linse bekam.

Durch die tragische EntfĂŒhrung von Natascha Kampusch in Wien im MĂ€rz 1999 war aber die Angst von Eltern nicht unbegrĂŒndet. Es war verstĂ€ndlich, dass jedes Kind von seinen Eltern instruiert wurde, bei keinen fremden Menschen ins Auto zu steigen, in Gruppen den Schulweg zurĂŒckzulegen und mit niemandem mitzugehen, ohne RĂŒcksprache mit den Eltern zu halten.

Ich kaufte ein Bilderbuch, wo den SchĂŒlern ein unheimlicher Mann im Auto auffĂ€llt, der mehrere Tage hintereinander an derselben Stelle sitzt und aus dem Autofenster starrt. Die Kinder bleiben in der Gruppe zusammen, erzĂ€hlen jedoch ihren MĂŒttern am dritten Tag von dieser angsteinflĂ¶ĂŸenden Erscheinung. Die MĂŒtter rotten sich sofort zusammen und laufen zum Auto und fragen mit strenger Miene den dubiosen Mann, wieso er hier sitze und aus dem Fenster die Kinder angaffe. „Ich bin angestellt vom Verkehrsamt und zĂ€hle die Autos, die an dieser Stelle vorbeifahren“, lautet seine harmlose Antwort und erleichtert die mĂŒtterlichen Herzen. Das wollte ich den Kindern auch vermitteln. Nicht jeder Mensch, der einen anschaut, ist gleich ein Mensch, der es böse mit ihnen meint.

Dennoch ließen mich die EntfĂŒhrungsgeschichten selbst nicht kalt. Ich war nicht immun. Unheimliche Geschichten können ein alphabetisches Feuerwerk der Ängste im mĂŒtterlichen Hirn auslösen.

Eines Septembertags beobachtete ich am Weg zum Kindergarten mit meiner kleinen Tochter einen Mann, der tatsĂ€chlich hinter zwei Volksschulkindern herlief und sie mit einer Kamera filmte. Ein grĂ¶ĂŸerer Bub mit neun Jahren hielt an seiner Hand einen um einige Jahre jĂŒngeren Buben. Um Himmels willen, nun wurde ich Zeugin eines möglichen Verbrechens und das in Zeiten, wo man ohne Smartphone unterwegs war!

Ich konnte diesen Verbrecher gar nicht filmen, um ihn auf frischer Tat zu ertappen! Es blieb mir nur die Offensive. Ich lief, meine Tochter an der Hand, nach vor und konfrontierte den Mann ernst: „Entschuldigen Sie, was gibt es fĂŒr einen Grund, dass Sie diese beiden Buben filmen?“

Er antwortete: „Der Kleine ist ErstklĂ€ssler und ich filme, wie er mit seinem großen Bruder das erste Mal gemeinsam zu Fuß zur Schule geht. Und ich bin der Papa.“

© Anne_Ladgam 2022-09-25

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