von So_Yellow_
Gegenüber von Anna Sowiesos Grab ist ein Grabstein mit einer langen Inschrift. Seeehr lang. So lang, dass ich die Hälfte wieder vergessen habe, obwohl mein Rücken dort beim Sitzen immer Halt findet und er die Buchstaben auswendig kennen müsste. Irgendetwas über Pilger und Tod und Ziele steht da. Das „P“ spüre ich ganz sicher immer am rechten Schulterblatt.
„Ich gehe gießen!“ sage ich zu meiner Tochter und schnappe meine Gießkanne. Die Zeit des heimlichen Gießens mit der Wasserflasche ist vorbei, die Pflanzen haben unbändigen Durst. Schon nachmittags kreischt es in meinen Ohren: „Beeil Diiiiiiich Piep Piep!“ zwitschern die Vögel laut und wild in den Bäumen. So hört es sich jedenfalls an und ist ja klar, dass sie nur mich meinen können.
Die große grüne Gießkanne ist randvoll und schwappt im Treppenhaus über. Als ich das Tor zum Friedhof erreiche, bemerke ich, dass es offen steht. Ein Rad lehnt daneben. Ich trödele mit der Kanne Richtung Annas Grab und da sehe ich einen jungen Mann. Mit Kopfhörern. Er steht an dieser langen Inschrift und dreht mir unfreundlich den Rücken zu. Erst will ich stumm und heimlich gießen und frage mich, was er wohl denkt, wenn ihm plötzlich Wasser vom Grab zu den Schuhen läuft. Ich muss ja viel und ausgiebig gießen, da bleibt eine Pfütze nicht aus, bei der abgebrochenen Grabumrandung. Es läuft halt weg, wie Wasser es nun mal tut.
Doch dann! Ein Blitzgedanke! Er wird der erste Fan nach mir von Anna Sowieso! Vielleicht ist er Geschichtsstudent? Oder Reporter? Oder Dichter? Alles wäre gut, um Anna ins Rampenlicht zu rücken!
„Hey, sorry!“ sage ich daher laut. Er zuckt zusammen und hat jetzt bestimmt auch den Text von der Inschrift vergessen. Dann dreht er sich um und nimmt den Kopfhörer ab. Guckt fragend „Ich muss jetzt hier gießen!“ sage ich wichtigtuerisch. Er blickt auf die Gießkanne. Auf mich. Auf das einzige bepflanzte Grab ringsum. Auf die Taubenfeder, die ich letztens in den Boden gesteckt habe. Dann schaut er stumm und erleuchtet zu, wie ich erst gieße und mich dann mit großen Schritten vom Gottesacker Richtung Wohnung mache. Ich schwinge fröhlich die Gießkanne in der Hand und rutsche fast im Treppenhaus auf einem seltsamen Wasserfleck aus.
Schnell zum Fenster, wo das Fernglas steht. Hah! Er steht da immer noch. Bestimmt überlegt er sich ein Gedicht über Anna! Oder einen Blogbeitrag. Oder einen Aufsatz! Bestimmt gibt es bald eine Sendereihe zur unbekannten Toten. Ich winke dem Mann vom Fenster aus dankbar nach, als er kurze Zeit später mit dem Rad wegfährt. Aber er sieht mich nicht. Klar, verstehe ich: er hat nur noch Anna Sowieso und eine Story dazu im Kopf. Fans sind extrem wichtig. Weiß man ja durch Social Media… da fällt mir ein… Anna hat ja noch gar kein Instagram!
Andriyko Podylnik – unsplash
© So_Yellow_ 2020-05-25