Der erste Tag

Louis Eikemper

von Louis Eikemper

Story
Nibelungenwald

Ludwig ging ein Stück beiseite, weg von den anderen, denn ihr Geplauder vermengte sich in seinem Verstand zu einem regelrecht monotonen Klang. Ob es bloß der Jetlag ihrer langen Anreise war, der ihn für das Besprochene derartig desinteressiert stimmte? Möglicherweise war es das gewesen, wenngleich er meistens auf Durchzug schaltete und in Gedanken verfiel, wenn alle durcheinander redeten. Insgeheim blieb er sich im Gefühl sicher, dass die Natur den Menschen nicht umsonst zwei Ohren und nur einen Mund verliehen hatte. Ludwig leitete daraus ab, dass es wohl wertvoller sein musste zuzuhören, als selbst zu sprechen – getreu des altbewährten Sprichworts: Reden ist Silber, Schweigen ist Gold.

Die Gruppe schien nicht einmal zu merken, dass Ludwig sich etwas zurückgezogen hatte – und wenn doch, dann wendeten sie nichts dagegen ein. Wie so oft schleppte er seine gesamte kreative Ausrüstung mit sich herum, für den Fall, dass ihm die Eingebungen unterwegs neue Inspirationen schenkten, welche er in Kunst verwandeln konnte. Inzwischen sagte man ihm nach, dass sie zu ihm gehörte – leibeigen, wie seine Arme und Beine. Hatte er sie einmal vergessen, war es beinahe, als fehlte ihm etwas Elementares; wenn er sein Zeichenset beispielsweise nicht mit sich führte, dann schlenderte er in aller Gewohnheit trotzdem so, als würde er es unter dem linken Arm tragen. Die hölzerne Malerstaffelei lehnte stets über der rechten Schulter, während seine Leinwände, Farbtuben und die Pinsel gemeinsam mit den Notizbüchern und dem Füllfederhalter in der Tasche lagerten, die er umgehängt hatte. Gewiss ließ sich aus diesem mittlerweile in ihm verankerten Automatismus herleiten, dass er in seiner seelischen Berufung als Künstler und Schriftsteller fündig geworden war – doch ebendiese unterbewusste Verknüpfung, welche auf seine Körperhaltung unnatürlichen Einfluss nahm, würde mit relativer Sicherheit auch nicht gesund für ihn enden; und dessen war er sich bewusst, wohl oder übel.

Leichtfüßig distanzierte sich Ludwig von der weitreichenden Lichtung, an der man ein großes Bienenhotel installiert fand, welches mit vielen, liebevollen Schnitzereien verziert worden war – und der Gruppe zuvor den Anlass für das Gespräch gegeben hatte. Gediegen lief er den Tiefen des Nibelungenwaldes entgegen, aus denen ihn die unverkennbar gut duftende, reine Waldluft einladend willkommen hieß.

Es war ein Apriltag gewesen – einer von jenen, die bereits die Wärme des nahenden Sommers ankündigten und zeitgleich noch Frühlingsfrische in sich trugen. Die Fusion aus Licht und Schatten, welche sich Ludwigs Wahrnehmung zwischen den vielen hochgewachsenen Bäumen, Sträuchern und Pflanzen ergab, wirkte magisch auf ihn ein. In unmittelbarer Reichweite bemerkte er einen Mückenschwarm, der sich in den durch die Wipfel einfallenden Sonnenstrahlen abzeichnete. Es war, als feierten sie deren Glanz in einem Tanz der heiteren Anmut. Beim Beobachten des Szenarios wunderte er sich einige Augenblicke darüber, dass die Bewegungen der kleinen, fliegenden Insekten aufeinander abgestimmt und einstudiert wirkten – so als folgten sie einem eingestellten Takt, wenn das Tageslicht grüßte. Die Tierchen erschienen Ludwig im Zauber des Moments fast verwunschen, wie Fabelwesen.

Der von Blättern, Moos und Baumrinde gepolsterte Waldboden unter seinen Füßen federte – hob er Ludwig doch bei jedem gelaufenen Schritt an. Nach einer Weile war er im Wald so tief vorgedrungen, dass seine Kollegen ihn nicht mehr sehen und er sie ganz und gar ausblenden konnte. Ludwig legte die Ausrüstung ab, streckte sich ausgiebig in die Länge und genoss dabei, wie seine Gelenke knackten und sich die verspannte Muskulatur dehnte. Als er den Karamell farbenen Rollkragenpullover über seinen Kopf zog, rutschte das weiße T-Shirt mit, was er darunter trug und setzte ein Stück von seinem Bauch frei. Den Pullover verband Ludwig in einem Knoten um die Hüfte, ehe er aufblickte und einen Abhang bemerkte, der nicht weit von ihm lag. Neugierig näherte er sich dem Punkt. Dort angelangt staunte er einige Momente über die Wunder der Natur, welche das Areal rund um den Nibelungenwald im Panoramablick einzuschenken wusste. Das Gebiet erstreckte sich einige Kilometer weit und verband die benachbarten Gemeinden von Fatum, Porta Fati und Amorem mit seinen Wanderwegen, die bis hinauf in das angrenzende Hieronymus-Gebirge leiteten. Ludwigs Bewunderung mündete in einem Gefühl der Verliebtheit, als er die mächtigen Berge sah, welche sich stolz gen Himmel reckten. Der fast zu flüstern scheinende Wind raschelte durch die Vielzahl der prächtigen, grünen Baumkronen, die in den verschiedensten Schattierungen von Smaragd und Oliv schimmerten. Die Sonne dieses Apriltages warf warmes, goldenes Licht auf sie, wodurch der lebhafte Glanz ihrer majestätischen Wipfel um so mehr betont wurde. In der Ferne bemerkte er das Glitzern des klaren, himmelblauen Wassers von Fatums Täufersee, dessen Oberfläche wie ein riesiger Spiegel einwirkte. Beinahe machte es den Anschein, dass sich in ihm nicht nur das Himmelszelt reflektierte, sondern auch alle anderen Eingebungen, welche die Natur ihren Betrachtern erwies. Je genauer Ludwig blickte, desto schärfer erweiterten sich seine Sinne. Er konnte die ruhigen Wellen des Sees hören, wie sie leise gegen die Ufer plätscherten. Die frische Luft fand Fülle im erdigen Duft des Waldes und vermischte sich mit dem süßen Aroma der zu dieser Jahreszeit üppig blühenden Wildblumen. Über ihm kreiste ein mächtiger Adler im Gleitflug seiner Schwingen. Er stieß eindrucksvolle Rufe in die Weiten, welche im Echo der Berge widerhallten und für jeden der Bewohner des Gebiets unüberhörbar verweilten. Ringsherum zwitscherten die nistenden Vögel fröhliche und muntere Gesänge und nicht weit von ihm registrierte Ludwig das sanfte Rauschen eines kleinen Baches, der sich seinen Pfad durch die Landschaft bahnte. Die Szenerie erschloss ein Fest für Ludwigs Sinne und schuf sogleich einen Ort der Ruhe und des Friedens, wo die Schönheit der schöpferischen Natur in ihrer reinsten Form auflebte.

Plötzlich riss ihn das laute Knacksen eines Zweiges aus dem Augenblick. Blitzschnell wirbelte er umher und versuchte ausfindig zu machen, was das Geräusch verursacht hatte. Ludwig erblickte die Silhouette einer Gestalt, welche hinter eine Lerche huschte, die etwa zehn Meter zu seiner linken empor gewachsen war.

„Hallo? Ist da jemand?“, rief er aus. Eine Weile blieb es still. Die Gestalt verharrte hinter dem Baumstamm und regte sich nicht. Vorsichtig machte Ludwig zwei Schritte in Richtung der Lerche. Für den Bruchteil einer Sekunde lugte sie hinter dem Baum hervor, doch verschwand dann sofort wieder – in etwa so, als wollte sie Ludwig zum Versteckspiel herausfordern. Auch wenn er auf die Güte seiner Götter vertraute und das Schicksal zu lieben wusste, begann sein Herz mit einem Mal heftiger denn je zu pochen. Er ließ die Ausrüstung an Ort und Stelle liegen und ging weitere Schritte der Vorsicht auf die Lerche zu, wobei das Knistern und Knacksen der vielen verschiedenen, kleinen Äste, die den Waldboden bedeckten, jede seiner Bewegungen verriet. Damit das Wesen, welches sich hinter der Lerche versteckt hielt, auf keinen Fall den Eindruck bekam durch ihn gefährdet zu werden, zog Ludwig einen geschickten Bogen, während er auf den anvisierten Baum zulief. Endlich erfasste er die Gestalt in seinem Sichtfeld.

Als sich ihre Blicke trafen, duckte sie sich sofort und gab über eine Abwehrhaltung zu verstehen, dass er bleiben sollte, wo er war. Ludwig hob die Hände und kehrte sie zu beiden Seiten, um dem Wesen zu deuten, dass er in guter Absicht kam. Aufmerksam musterte er es von Kopf bis Fuß und sollte vollkommen bezaubert sein, als er in dessen sonderbares Antlitz blickte. Es hatte bis zur Taille reichendes, engelblondes Haar und blinzelte ihm durch himmelblau leuchtende Augen entgegen, in schier übernatürlich funkelnder Anmut.

„Hey, du“, stieß Ludwig leise hervor. Die Gestalt des Wesens wirkte in ihrer femininen Erscheinung zart, fast fragil und hielt sich sprungbereit auf den Zehenspitzen, sodass sie jederzeit bereit war zu fliehen, wenn er eine Bewegung machen sollte, die bedrohlich wirkte. Ludwig blieb stehen. Sie lächelte ihm schüchtern ins Gesicht. Bei genauerer Betrachtung fielen ihm die seltsam spitz ausfallenden Ohren auf, mit denen sie wachsam lauschte. Ihrem Rücken waren zwei perlmuttfarbene, schimmernde Flügel entwachsen, in denen die Sonnenstrahlen ultraviolett reflektierten. Ludwig staunte und rieb sich verwundert die Augen, um sicherzugehen, dass er nicht in einem Tagtraum versunken war. Die vielen Blätter der Lerche, welche wie ein hütendes Dach über dem zierlichen Kopf des Wesens im Winde raschelten, wogen sich im natürlichen Zusammenspiel vom einfallenden Tageslicht und den Schattenwürfen in ihrem blassen, von vielen kleinen Sommersprossen gezeichneten Gesicht.

Sie konnten den Blick nicht mehr voneinander abwenden, so schien es. An diesem schicksalhaften Apriltag sah Ludwig sie zum allerersten Mal – und es sollte der erste vom Rest seines Lebens werden, denn mit jenem magischen Moment ihrer Begegnung veränderte sich alles für ihn. Es gab den Ludwig, der er vor ihrem Aufeinandertreffen gewesen war – und den Mann, der er danach werden sollte.

© Louis Eikemper 2025-04-19

Genres
Science Fiction & Fantasy
Stimmung
Mysteriös