Der Exhibitionist

Jürgen Artmann

von Jürgen Artmann

Story

Erst sagte der Mann freundlich „Bonjour“, was ich genauso freundlich erwiderte. Er hatte am Freikörperkultur-See Sport getrieben. Liegestütze an einer Holzbank gemacht. Danach war er auf mich zugekommen und auch gleich zur Sache.

„Sie verwechseln wohl Naturismus mit Exhibitionismus?“, fragte er mit erzürnter Stimme. Ich schaute ihn ungläubig an, denn obwohl ich ihn auch auf Französisch richtig verstanden hatte, konnte ich nicht glauben, was er sagte. Und ich zweifelte erstmal an meinen Sprachkenntnissen.

Es war Sonntagmorgen. Ich war schon sehr früh am See und mit mir höchstens ein halbes Dutzend andere Menschen. Um den kleinen See, der mehr ein Teich ist, etwa alle zweihundert Meter ein Mensch. Ich genoss die Stille, die Leere des frühen Morgens und die Sonne und breitete die Arme und Beine weit aus.

„Ich, ich bin normal.“ Er zeigte auf sein nicht erigiertes Geschlechtsteil.

„Ja, ich doch auch.“ Ich zeigte auf meins und hob achselzuckend die Schultern.

Hier wären anständige Leute und es kämen ja schließlich auch Kinder her.

„Ich weiß, ich komme schon seit fünf Jahren hier her.“

„Dann wissen Sie ja, wie man sich hier benehmen muss.“ Er drehte mir den Rücken zu und verschwand.

Na toll, der Morgen hatte eigentlich entspannt begonnen. Doch jetzt stand ich wie ein begossener Pudel da. Ich ärgerte mich über seine Maßregelung. Ich mag Maßregelungen generell nicht. Vielleicht hatte er ja Recht und ich bin exhibitionistisch. Aber warum störte ihn das?

Sonntag vor einer Woche. Aimée ist bei mir. Ich wohne im dritten Stock. Habe bodentiefe Fenster und keine Gardinen. Wir sitzen auf dem Canapé und diskutieren. Auf der anderen Straßenseite und in Sichtweite sind Ladengeschäfte im Erdgeschoß, Büros in den beiden Stockwerken darüber und Wohnungen wiederum in den beiden oberen Etagen.

Wir diskutieren so lange über Gott und die Welt, ja philosophieren, bis mir mein Erregungsniveau langsam die Stimme nimmt. Sapiosexualität finde ich ja seltsam, aber sie funktioniert zuverlässig. Diskussionen sind wie eine aufputschende Droge. Als ich anfange, Aimées Knöchel zu küssen, beginnt sie zu vibrieren, als hätte sie einen Stromschlag bekommen. Ich arbeite mich höher und lecke ihre Kniekehlen. Später wird sie mir gestehen, dass diese Stelle wie ein zweites Geschlechtsteil für sie ist.

Wir liegen auf der Couch, verknotet. Wo ist oben, wo ist unten? In den Büros auf der anderen Straßenseite kann uns keiner beobachten. Sie arbeiten dort sonntags nicht. Und wenn jemand aus den Wohnungen in den höheren Stockwerken hinter seiner Gardine steht und zusieht, soll er doch. Er sieht etwas Schönes!

„Mach ein Foto von dieser Position. Aber lege es in deinen coffre fort. Das bleibt unter uns.“

Wir schauen uns das Foto später gemeinsam an.

„Es ist wunderschön“, sagt Aimée, und dass sie nicht versteht, warum jungen Menschen Sexualität und Nacktheit immer nur als etwas Negatives beigebracht wird.

Ihre Worte erleichtern mich. Der Typ vom See kann mich mal!

© Jürgen Artmann 2022-06-19

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