Bipolar zu sein ist nicht halb so Rock ’n’ Roll, wie es in Hollywoodfilmen dargestellt wird. Für die Realität gibt es kein Drehbuch und keine Hintergrundmusik, die das Drama, die manische Episode und whatever-the-fuck-sonst-noch passend untermalt. Es gibt keinen Erzähler, keinen Sprecher à la Morgan Freeman, der für den Zuschauer Dinge sagt wie: Und da treibt es unseren Helden ziellos durch die Stadt, wenn es einen nachts auf die Straße zieht.
Fleming ist sechsunddreißig und wusste bis vor wenigen Monaten nicht einmal, was eine bipolare affektive Störung überhaupt ist. Hat ihn nie wirklich beschäftigt, bis zu der Nacht in der Notaufnahme. Heute ist er etwas schlauer und mal wieder unterwegs, zu Fuß, seine Beine tragen ihn wie alle Neu-Berliner an die Warschauerstraße. Der Fernsehturm leuchtet in der Nacht, erinnert jeden daran, was das hier für ein Ort ist. Nicht das Wunderland, wenn auch voller Verrückter. Nicht Mittelerde, auch wenn man sich wie die Gefährten die Füße wund latscht. Das hier ist Berlin, grau und irgendwie bunt. Niemals still. Tausende Leute sind unterwegs, die meisten mit Bier- und Sektflaschen in der Hand.
»Ernsthaft«, sagt ein Mann gerade zu seinem Begleiter, als sie an Fleming vorbeigehen. »Sortier dich mal, Alter.«
Sich sortieren, denkt Fleming, während er den Männern nachsieht und das Kaugummipapier in seinen Fingern zu Konfetti verarbeitet. Das wäre doch was. Den Verstand sortieren können wie Regale in einer Bibliothek. In Flemings Kopf herrscht Anarchie. Sein Verstand bewegt sich zwischen Himmel und Hölle, auf und ab. Er ist Ikarus, der mit falschen Flügeln aus Federn und Wachs über den Luftweg aus seiner Gefangenschaft flieht, aber aufpassen muss, dass er weder der Sonne über sich, noch dem Meer unter sich zu nahe kommt.
Während einer Manie kennt Fleming keine Vorsicht und rast in die Höhe, immer weiter der Sonne und dem Himmel entgegen, seine Haut ist zu eng, er weiß nicht wohin mit all dieser Euphorie und Lust. Er gibt Geld aus, das er nicht hat. Er trinkt, exzessiv. Ist achtundvierzig Stunden am Stück wach, von Müdigkeit keine Spur. Manchmal hält er sich für einen Komiker, den größten, den die Welt je gesehen hat, manchmal rastet er komplett aus. Er weiß nicht, wie viele Smartphones er schon zertrümmert hat. Wie viele Flaschen zerbrochen. Doch die Sonne brennt heiß und immer heißer und plötzlich löst sich das Wachs seiner falschen Flügel vor Hitze – und er stürzt.
Immer tiefer und tiefer, hinein in das dunkle Wasser, welches ihn nach unten zieht. In der Tiefe hört und sieht Fleming nichts, sein Körper ist schwer. Er bekommt keine Luft. Er ist müde, so unfassbar müde. Er sagt alles ab, was er in seiner Manie großspurig geplant hat. Reagiert auf nichts, fühlt nichts.
Fleming bemerkt, dass er seinen Kaugummi längst verschluckt hat. Er packt einen neuen Kaugummistreifen aus und schiebt ihn sich in den Mund. Er kaut langsam, während seine Finger das Papier zerreißen.
Hinter ihm eine Brotspur aus Fetzen.
© Naduschka_Kalinina 2022-08-18