von Sonja M. Winkler
Er stach heraus, nicht nur, weil er gutaussehend war, sondern auch, weil er sich eines altertümelnden Wortschatzes befleißigte und längere Sätze baute als die übrigen Kursteilnehmer. Er hieß Patrick. Den Nachnamen teilte er mit der Schöpferin von Pippi Langstrumpf. Seine Mutter, eine Schwedin, erfuhr ich, hatte es nach Helsinki verschlagen.
In den 1970er-Jahren gab es während der Sommermonate Deutsch-Kurse an der Universität. Sie liefen unter der Bezeichnung „Wiener Internationale Hochschulkurse“ und richteten sich an ausländische Studierende.
Als neue Kursleiterin in den angestammten Lehrkörper aufgenommen zu werden, galt als schwierig. Ich war Anfang 20 und wollte Unterrichtserfahrungen sammeln. Also begab ich mich eines Tages in die Direktion. Auf dem Türschild stand: Dr. Theodor Kriesch. Der pockennarbige Mann beäugte mich skeptisch. Dann wurde ich auf Herz und Nieren geprüft, denn ein eigenes DaF-Studium gab es damals noch nicht.
Was sagen Sie einem Ausländer, wenn er Sie fragt, warum es nicht „er weißt“ heißt, mit -t- als Endung, wie es für die 3. Person Präsens im Allgemeinen üblich ist?
Er staunte nicht schlecht, als ich die Frage wortreich beantwortete. So kam es, dass ich drei aufeinanderfolgende Jahre im August Deutschkurse hielt.
1977 saßen fast nur männliche Studenten in der Klasse. Sie hingen buchstäblich an meinen Lippen. Beim Abschlussheurigen überreichten sie mir eine LP von Cat Stevens. Sie hatten sich alle verewigt auf dem Cover.
Vom Ägypter bekam ich Silberschmuck. Der fesche Finne, Student der Jurisprudenz, drückte mir einen Strauß Rosen in die Hand, mit den Worten, eine Blume für die Blume. Er begleitete mich bis vor die Haustür. Der Fußmarsch von Pötzleinsdorf bis Fünfhaus dauerte die halbe Nacht.
In den kommenden Jahren gingen Briefe hin und her, ein Mix aus Deutsch und Englisch. Wir wollten einander besuchen, doch dazu kam es nie. Aber wir hielten uns auf dem Laufenden: Studienabschluss, er: Jus; ich: Lehramt. Hochzeit, er; ich: Geburt eines Sohnes; er: 1982 Vater von Zwillingen. Beruf, ich: Lehraufträge; er: Notariatskanzlei. Wir gewährten einander auch tiefere Einblicke in unser Leben. Nur irgendwann riss der Faden ab.
2006, beim Aufräumen des Kellerabteils, stieß ich auf seine Briefe. Ich googelte seinen Namen und schrieb ihm ein Mail auf Englisch. Er antwortete und natürlich erinnerte er sich noch an mich. Seinen Zeilen entnahm ich, dass ihm Schreckliches widerfahren war. Er blieb jedoch vage und erging sich in wirren Andeutungen. Am Englisch lag’s nicht. Das war einwandfrei. Es war vielmehr die Art, wie er sich bedeckt hielt, die mich verstörte. In mir entstand ein Bild, er könnte vielleicht im Rollstuhl sitzen oder sonst unter irgendwelchen Einschränkungen leiden.
Ich bekam Angst, in ein Wespennest gestochen zu haben.
Heute weiß ich nicht mehr, ob ich auf sein Mail reagiert habe. Alles gelöscht. Die Ansichtskarte mit dem finnischen Vaterunser, die hab‘ ich noch.
© Sonja M. Winkler 2022-01-14