von Melanie Suette
Sein Blick irrte im Raum umher, seine Finger trommelten einen unregelmäßigen Takt auf den Tisch vor ihm, ansonsten war alles gespenstisch still. Etwas lag vor ihm auf dem Tisch. Etwas Schwarzes, vielleicht so groß wie der Nagel seines kleinen Fingers. Eine Leiche. Er richtete seinen Blick auf die Leiche vor sich, starrte sie nur an. Die Flügel standen in einem komischen Winkel vom Körper ab, einer davon war geknickt. Die Beine waren nicht säuberlich angezogen, sondern standen ebenfalls ab. Ihr Körper war zu platt. Vor wenigen Minuten summte sie noch verzweifelt am Boden, vor wenigen Stunden flog sie wahrscheinlich noch im Haus umher. Erregte wenig Aufmerksamkeit. Ein einziges, kurzes Kommentar seiner Mutter: Stirb doch endlich! Ein kurzer, genervter Ausruf, der ihn erst auf die Fliege, die sich im Todeskampf befand, aufmerksam gemacht hatte. Sie summte, am Rücken liegend und verzweifelte an dem Versuch sich wieder aufzurichten und wegzufliegen. Stirb doch endlich. Wieso tötete sie sie dann nicht einfach? Er hatte sich vor die Fliege gesetzt und ihr zugesehen, sie summte und summte und summte. Kein Anzeichen davon, dass sie bald sterben würde, aber auch keines davon, dass sie sich wieder erholte. Stirb doch endlich. Jede Minute, die so verstrich, kam ihm plötzlich länger vor. Qualvoller. Er glaubte immer weniger daran, dass sie sich wieder erholen würde. Sie würde nicht mehr fliegen. Am liebsten wäre er sofort aufgestanden und gegangen, dann würde er niemals wissen, wie das Leben dieser Fliege geendet hatte. Doch er wusste, dass er nicht weggehen durfte. Nicht bis sie entweder weiter flog oder tot war. Er würde kein Feigling mehr sein. Irgendwie hatte er Mitleid mit der Fliege, als er sie so um ihr Leben ringen sah. Es wurde ihm immer klarer, dass sie sowieso sterben musste und wahrscheinlich nie wieder fliegen würde. Ein Feigling würde einfach zusehen, wie sie starb. Ein Held würde sie von ihrem Leiden erlösen. Und wenn sie nun doch noch weiterlebte? Was, wenn sie doch wieder fliegen konnte? Würde ihn das zum Mörder machen? Er wusste, dass dieser Moment ein entscheidender war. Stirb doch endlich. Mitleid macht grausam. Er würde mit der Schuld leben müssen. Aber das war doch die Last, die man auf sich nehmen musste, um ein Held zu sein. Und das war alles, was er sein wollte. Kein Mörder, kein Feigling. Ein Held. Sekunden später verstummte das Brummen der Fliege mit einem Knall, abrupt und für immer. Er hatte seine Wahl getroffen. Als seine Zimmertür aufging, wandte er seinen Blick von der Leiche, die ihn zum ersten Mal zum Helden gemacht hatte ab und blickte in das Gesicht seiner Mutter. Sie sagte etwas zu ihm, doch er konnte sie nicht hören. Er sah bloß, wie sich ihre Lippen bewegten. Die Augenbrauen sich irritiert zusammengezogen, ein müdes Schimmern in ihren Augen, dunkle Schatten unter ihnen. Und in diesem Moment erinnerte seine Mutter ihn zum ersten Mal an die Fliege.
© Melanie Suette 2022-08-07