von Matilde Heindel
ALLES IST ANDERS.
ICH TRAUERE DER VERGANGENHEIT HINTERHER, DENN ABSCHIED NEHMEN IST SCHWER!
Ich schlage die Augen auf. DrauĂen ist es schon hell, doch die Sonne ist nicht zu sehen. Der Himmel ist wolkenverhangen und grau. Ein paar Regentropfen rollen die Fensterscheibe hinunter. Noch im Halbschlaf schaue ich auf die vorbeifliegenden BĂ€ume und BĂŒsche. Eigentlich gucke ich durch sie hindurch. Die Augen klappen mir zu. Fast bin ich schon wieder eingeschlafen, da stöĂt mich etwas am Arm. Meine Augen sind geschlossen. Einen Augenblick frage ich mich, was zum Teufel mich gerade angestoĂen hat. Ich liege doch im Bett – halt – aber warum ist der Untergrund so hart und woher kommt das Rumpeln und Rauschen? Auf einmal fĂ€llt mir alles wieder ein. Wie ein Blitz rasen mir die Geschehnisse der letzten Wochen durch den Kopf.Die Wochen, in denen mein Leben sich komplett verĂ€nderte. Die Wochen, in denen ich nicht nur alle meine Freunde und meinen Wohnort verloren habe, nein, dies waren auch die Wochen, in denen ich das Allerwichtigste in meinen Leben verloren habe: Meine Mutter! Meine Mutter ist vor drei Wochen gestorben. Nun ergibt auch alles Sinn: das Rumpeln und Rauschen, die vorbeifliegenden BĂ€ume, ich sitze im Auto, schon seit mehreren Stunden. Meine kleine Schwester hat mich gerade angestoĂen. Nun sitzt sie neben mir, die Augen geschlossen, ihren Kuschelwolf an sich gedrĂŒckt. Auf ihren Wangen glitzern noch die TrĂ€nen, die sie auf der Autofahrt schon geweint hat. Seit all das passiert ist, sind die TrĂ€nenspuren auf Rubys Wangen kaum verschwunden. Selbst jetzt im Schlaf kullert Ruby eine dicke TrĂ€ne die Wange hinunter und tropft auf ihr Stofftier. Ruby sieht unglaublich klein aus, wie sie da eingerollt dasitzt und ihren Wolf umklammert. Viel zu klein und verletzlich fĂŒr ein neunjĂ€hriges MĂ€dchen. Ruby hat sich unglaublich verĂ€ndert in den letzten drei Wochen. FrĂŒher noch hĂ€tte sie lieber ihr ganzes Zimmer aufgerĂ€umt, als mit einem Kuscheltier zu spielen. âIst doch was fĂŒr Babysâ, hĂ€tte sie gesagt und hĂ€tte gelacht. FrĂŒher war Ruby hartnĂ€ckig, tapfer und mutig. Kuscheltiere, Pferde und Puppen, das passte so gut zu ihr wie ein Handy ins Mittelalter. Ruby spielte lieber Piraten und FuĂball und schlug sich auch gerne mal mit einem ihrer Freunde. Meine kleine Schwester hatte einen unglaublich starken Willen und wenn sie sich mal etwas in den Kopf gesetzt hatte, konnte niemand sie davon abbringen. Mit sechs Jahren beispielsweise hatte sie sich vorgenommen, genauso gut freihĂ€ndig Fahrrad zu fahren wie ich und meine ZwillingsbrĂŒder Mats und Finn, aber die waren ja auch schon 16. Sie hatte so lange geĂŒbt und ist wieder und wieder gestĂŒrzt, doch die ganzen blauen Flecken und SchĂŒrfwunden hatten ihr nichts ausgemacht. Sie hat weiter geĂŒbt, bis sie es irgendwann wirklich richtig gelernt hatte. So war Ruby frĂŒher – und jetzt ist sie kaum wiederzuerkennen. Sie sagt so gut wie gar nichts mehr, weint leise vor sich hin, und hĂ€lt die ganze Zeit ihren Kuschelwolf (den ihr Mama vor ein paar Jahren einmal geschenkt hatte) in den Armen. Doch Ruby ist nicht die Einzige, die sich verĂ€ndert hat, alle haben sich verĂ€ndert. Meine BrĂŒder Mats und Finn zum Beispiel waren vor den schlimmen Wochen noch die beliebtesten Jungs unserer Schule, was ziemlich nervig war, da die meisten meiner Freundinnen in einen der beiden verliebt waren.
© Matilde Heindel 2023-07-15