von Claudia Schubert
Im Kindergarten hatte ich viele Freunde. Also genau genommen hatten alle Kindergartenkinder in der DDR viele Freunde. Sie hießen Boris, Natascha, Irina und Wladimir und lächelten uns in bunten Leseheften als frohe Botschafter der deutsch-sowjetischen Freundschaft entgegen.
Man musste sie einfach mögen. Die Staatsraison wollte das so, und wir Kinder mochten sie. Eifrig bastelten wir für unsere Freunde Fähnchen und schneeweiße Friedenstauben, um sie dann kollektiv gen Osten zu schicken. Ob sie dort tatsächlich jemals ankamen, das wussten wir nicht.
Wenn unsere Freunde uns auf dem Papier von ihrer Heimat berichteten, dann waren wir schon zufrieden. Denn ein bisschen sollte sie auch unsere sein; auf dem Papier. Wir freuten uns darüber, wenn wir unter den Bildern der prunkvollen Zwiebeltürme Moskaus das Wort “достопримеча́тельность” fehlerfrei aussprechen konnten. Das wäre was, da mal hinzukommen, in dieses immense Großreich, welches mit uns befreundet sein wollte. Einmal zu den Schauplätzen von Väterchen Frost und Baba Jaga, einmal mit Juri Gagarin zu den Sternen fliegen.
Doch einzig und allein unsere Großeltern schafften es einmal nach Sotschi, an die russische Riviera am Schwarzen Meer. Eine Reise zum Herzen des Realsozialismus. Der Rest unseres Freundschaftsstaates blieb ein immenser, roter Fleck auf der Landkarte.
Doch ja, es gab sie, diese Nataschas und Wladimirs. Immer, wenn ich zu meinen Großeltern ans andere Ende der Stadt fuhr, begegnete ich ihnen. Also, ich begegnete ihnen nicht wirklich, denn die mit Zeitungspapier verdeckten Fenster ihrer Altbauwohnungen entlang der langen Allee gewährten beim Vorbeifahren kaum Einblicke in ihre Welt. In Delikatessen-Lädchen in den Erdgeschoßetagen hatten sie sich hier ein Stück Heimat geschaffen, welche für uns ebenso weit weg schien wie die sibirische Taiga. Nur manchmal, wenn meine Oma Lust verspürte, ihre veralteten Russischkenntnisse aufzufrischen, kaufte sie dort etwas. Ich ging nie mit.
Denn wenn vor uns russische Soldaten die Straße überquerten, um ihren Stützpunkt auf der anderen Straßenseite zu erreichen, hatte ich Angst. In ihren langen, grüngrauen Mänteln erschienen sie mir wie Geisterfiguren; wie gesichtslose Bösewichte aus einem schlechten Märchen. Auch der wuchtige Kasernenbau war mir nie geheuer. Mit seinem Stacheldrahtzaun verhielt er sich wie mit einer Matroschka: Man wusste nie wirklich, was einen dahinter erwarten würde. Ich hoffte manchmal, dass sich die Tore mit dem roten Stern öffnen und einen Panzer ausspucken würden. Aber dann wollte ich lieber rasch weiter und bei meiner Oma Kuchen essen.
Irgendwann waren sie dann alle weg: die DDR, die Sowjetunion, die bilaterale Freundschaft. Als die letzten Truppen nach jahrzehntelanger Stationierung wieder gen Heimat abzogen, wurden sie nicht vermisst.
Auch von Boris, Natascha und Irina habe ich nie wieder gehört. Denn wahrscheinlich waren sie nie wirklich meine Freunde.
© Claudia Schubert 2021-04-07