von NickBastian
Mein dritter Tag in Paris begann mit einer herumschreienden Frau. Ich bin einer dieser Menschen, die nach dem Aufwachen erst ein paar Momente brauchen, um ihr Gehirn hochzubooten und so fragte ich mich kurz, wer ich war, wieso ich einem Zimmer voller Hochbetten lag und wer diese Frau war. Ich war Nick Bastian und lag in einem Hostel, nämlich dem Generator Hostel in Paris. Auf die dritte Frage hatte ich keine Antwort. Ich war bereits am vorigen Tag verwirrt aufgewacht, nämlich als plötzlich ein im Gesicht tätowierter, glatzköpfiger Mann einen halben Meter neben meinem linken Fuß geschlafen hatte. Er musste irgendwann tief in der Nacht eingecheckt haben und sich dann auf die untere Matratze des Hochbetts neben mir gelegt haben. Nicht nur sein Gesicht, sondern jede Stelle seines sichtbaren Körpers war farbenfroh tätowiert. Ich fragte mich, ob er bei der Yakuza war, aber ich hielt das dann doch für sehr unwahrscheinlich.
Aber wer war nun diese schreiende Frau? Und noch wichtiger: warum schrie sie? Ich rappelte mich auf und versuchte, die Situation zu verstehen. Der Raum, in dem ich mich befand, sah aus wie eine Jugendherberge. In einem mittelgroßen Zimmer standen sechs weiße Hochbetten. Ich lag ganz hinten, direkt an der Wand. In der Mitte des Raumes ging die Frau auf und ab und schrie: „That is so gross. Why did you do this? No, I am calling the police.“ Jetzt war ich richtig involviert. Ihr gegenüber stand ein Südländer mit zerknitterten Klamotten, krausen Haaren und verdutztem Gesichtsausdruck. Noch einmal fuhr sie ihn an, dann packte sie ihren Rucksack und stürmte aus dem Raum.
Bis auf den Mann und mich war niemand im Raum. Er wandte sich zu mir. Mit starkem französischen Akzent erklärte er: „I couldn’t rresist. I saw herr feet and I had do douch theem. I norrmally don’t do dhis.“ Der Mann erklärte mir, dass er die Füße der Frau im Schlaf berührt hatte. Er sei eigentlich nicht so, aber irgendeine unüberwindbare Kraft in seinem Inneren habe ihn dazu gebracht. Ich wusste nicht ganz, was er von mir wollte. Sich das schlechte Gewissen von der Seele reden? Ich versuchte die Situation dazu zu nutzen, mein Französisch zu verbessern und stellte immer mal wieder obsolete Zwischenfragen, denn er hielt sein Plädoyer von ganz allein.
Es schien den Mann nicht zu beunruhigen, dass die Frau gegangen war, um die Polizei zu holen. Während des Sprechens, hatte er sich einen Spliff gedreht, den er jetzt hinter sein Ohr steckte. „I go outside now and smoke dhiss. You want do join me?“ An diesem Punkt der Geschichte traf ich eine Entscheidung, die wohl auf die Absicht zurückzuführen ist, wieso ich überhaupt alleine in Paris war: Ich wollte mein Französisch verbessern, Texte schreiben und vor allem neue Erfahrungen sammeln.
Er verließ den Raum. Fünf Minuten später folgte ich ihm. Wir saßen auf einer Bank vor dem Hostel und er rauchte seinen Spliff und ich rauchte meine Marlboro Gold. Ich fragte mich, was passieren würde, wenn die Polizei jetzt kam. Doch sie kam nicht. Wir sprachen über Nichtigkeiten und nachdem meine Zigarette erloschen war, stand ich auf und ging. Zwei Nächte im Hostel waren vorbei, vier noch übrig.
© NickBastian 2023-09-18