Der Gag mit dem Galgen

Jürgen Artmann

von Jürgen Artmann

Story

Die Abitur-Feier stand an. Nicht die meines Jahrgangs, sondern des Jahrgangs meiner Freundin. Eigentlich auch nicht ihr Jahrgang, sondern der ihrer alten Klasse. Sie war ein Jahr älter als ich, aber hatte wegen eines Sportunfalls viel Unterricht verpasst und musste das Jahr wiederholen. So kam sie in meine Klasse und nur deshalb lernte ich sie überhaupt kennen. Natürlich kannte sie im Jahrgang über uns noch viele Schülerinnen und wollte daher unbedingt zur Feier gehen.

Die Feier fand in der Aula der Schule statt. Schon am Eingang standen Abiturienten, die einem die Abi-Zeitung für zwei Mark verkauften. Sie war auf Hochglanzpapier gedruckt und im DIN-A5-Format gehalten. Auf der letzten Seite sah man einen Abiturienten scheinbar leblos an einem Galgen hängend. Ich fragte mich, wie sie das Photo angefertigt hatten, ohne ihn nicht wirklich zu erhängen. Darunter stand nur ein Wort: Aus.

Es gab ein Bring-your-own-Buffet und alkoholische Getränke. Die Eltern der Schüler, die das Abitur in der Tasche hatten, ließen sich nicht lumpen. Sie fuhren wirklich großartige Leckereien auf. Die Eltern einer Schülerin hatten eine Metzgerei und was sie anschleppte, hätte mehrere Abiturjahrgänge gesättigt. Spät am Abend warfen einige angetrunkene Schüler zwar noch mit Kuchen herum, was der Spenderin einige Tränen aus den Augen trieb, aber ansonsten blieb es eine fröhliche Feier.

Die Stimmung war ausgelassen, alle waren super gelaunt. Meine Freundin gehörte eher zu den lauten Menschen und sie lachte und schäkerte mit jedem, der vorbeikam.

Von Weitem sah ich ein Mädchen, das noch zwei weitere Jahrgänge unter uns war. Sie stammte aus meinem Dorf und ich hatte sie seit vielen Wochen nicht mehr gesehen. Nicht in der Schule, nicht im Schulbus und schon gar nicht auf einer Feier. Wir kannten uns eigentlich kaum, aber weil wir aus dem gleichen Dorf kamen, blieb sie kurz bei mir und meiner Freundin stehen.

„Hallo, schön dich mal wiederzusehen”, sagte ich zögerlich. Ich hielt die Abi-Zeitung fest in der Hand und die Rückseite auf meinem Bauch, so dass man sie nicht sah.

„Ja, ich freue mich auch”, sprach das Mädchen beinahe lächelnd.

„Ja, coole Party”, sagte meine Freundin. „Und schau mal hier.” Sie riss mir das Heft aus der Hand und drehte es blitzschnell um.

„Einfach nur aus haben sie geschrieben. Lustig, vor allem mit dem Photo, oder? Oh, wie freue ich mich, wenn nächstes Jahr bei uns endlich alles aus ist.”

Das Mädchen aus meinem Dorf wurde blass und ging, ohne ein Wort zu sagen. Ich glaube, ich habe sie danach tatsächlich mein ganzes Leben lang nicht mehr gesehen.

„Was ist denn mit der los?”, fragte meine Freundin und sah ihr hinterher.

Ihr Vater war verschuldet gewesen. Er hatte sich wenige Wochen zuvor im Elternhaus erhängt.

© Jürgen Artmann 2022-06-06

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