Der gesichtslose Alte

Weiß

von Weiß

Story

Mit verzogenen Lippen inspiziere ich den Fingernagel –, halte ihn näher zum Lampenschein hin. Die Regentropfen fangen das warm-weiße Licht der Gasflamme ein und erhellen diesen ansonsten in Nachtfinster gehüllten Friedhofsplatz. Ehe es sich rot verfärbt, verschließe ich das noch weiße Fleisch meiner Daumenwunde mit Erde. – Ich schürfe weiter:

Tiefer graben sich meine Finger in den Bodenschlund, innerhalb dessen die Gebeine der Vergessenen verweilen – tiefer hinab in den schwarz-nassen Morast, den ich verächtlich „das war einmal“ und „lange her“ nannte: das Grabloch. – An Steinen und Knochensplittern reißen sich meine Arme wund. (Selbst die Überreste gehen mir noch unter die Haut.)

„Was liegt darin begraben?“, fragt die Wächterin der Grabstätte und unterbricht das melodische Prasseln des Nachtregens, der Mantel und Erdboden tränkt. Das Licht Ihrer Petroleumlampe, wirft meine Silhouette in die bereits freigelegte Mulde. – „Besser gefragt“, ergänzt sie, „Was willst du wiederfinden? Die meisten verlieren hier bloß Abschiedsworte.“

Gerade befreie ich eine vermoderte Spielzeugpackung aus dem Dreck: ein Erinnerungsgedanke mehr, der sich hier offenlegt. – Was liegt darin begraben? – Abweisend werfe ich den Moderkarton in den Halbschatten des Grabsteins. Gemeißelt steht im Marmor mein Gesicht geschrieben. – Was liegt darin begraben?

„Ein früher Teil von mir“, antworte ich, (Ein Teil, den ich dachte, verbergen zu müssen.) „Nur zeigt sich mir nach vielen Jahren, dass ich ihn dennoch brauche.“ Unruhig lebt es sich im Wissen, dass mein Ich zu früh von mir ging. Unruhig wird mir zumute beim Gedanken, dass mein heutiges Ich nur der hinterbliebene Rest von mir ist.

Die Wächterin streckt ihren Arm und hält mir die Lampe zur Schläfe hin, tränkt mich in ihren Petroleumschein (um die Narben zu erkennen?) „Haut und Fleisch überdauern kein Leben – nicht mal ein halbes“, erwidert sie, „Ich fürchte, an diesen Orten gilt ein steinernes Gesetz: Woran du festhältst, ist heute Erinnerung.“

Ich schnaufe: „Keine Erinnerung. Es ist mein Gesicht, mein früheres Ich“, sage ich, während meine Finger Erdbrocken aus der Mulde schaufeln, „Es muss noch da unten sein – muss!“ Wie sonst könnte ich mich vollkommen fühlen? Wie könnte ich vollkommen leben, wenn mir die Vollständigkeit verstarb. – Ich schnaufe weiter.

Trotzdem düngt mir schweren Herzens: Selbst, wenn ich diesen verwesenden Fetzen fände – das kalte, verfallende Fleisch – und auf mich läge. Die darin schlängelnden Würmer flüsterten mir bloß ins Ohr von dem, was einmal war: die Schönheit des Kindergesichts, das nie mehr sein wird. – Bloß da, in meiner Erinnerung. – Bloß da, bis ich davon loslasse.

Vor langer Zeit ließ ich es in Stein mir meißeln: Ruhe in Frieden, mein Gesicht. (Das was bleibt, ist mein neues Vollkommen.)

Vielleicht vollbringe ich, die Toten ruhen zu lassen. Vielleicht ist das Lebende genug.

© Weiß 2025-03-03

Genres
Lebenshilfe
Stimmung
Dunkel, Hoffnungsvoll, Mysteriös, Reflektierend
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