von Louis Eikemper
»Nicht etwa die Erfahrung, Schöpferin aller bildenden Künste, führt uns in die Irre – sondern die Einbildung. Unsere von Eitelkeit regierten Einbildungen sind das wahre Unheil! Die Erfahrung weiß unsere Natur für uns zu erkennen. Sie lehrt nur nach dem Erreichbaren zu streben und bewahrt uns somit vor Betrug und Irrglauben im Leben«, äffte Romolus den Ausspruch des Glücksschmieds nach und kläffte darauffolgend im Lästern: »Scheinheilige Verstellung nenne ich das!« Ich blinzelte ihn im Stirnrunzeln an. »Du glaubst, des Meisters Erscheinung trügt uns etwas vor?« Er nickte. »Ja, da bin ich sogar sicher! Ich durchschaue ihn. Siehst du denn nicht, wie er sich selbst und uns Schülern etwas vorlügt?« Verdutzt rieb ich mir die Augen. »Was siehst du denn, Romolus?« Mir wurde unwohl. »Er ist jemand, der nur im Extremen denkt! Jemand, der nach dem Unmöglichen sinnt. Er konstruiert Maschinen, die sich gegen die Naturgesetze wenden. Strebt er nicht nach dem Unerreichbaren? Sieh nur an seine Wände. All die in ihren Bann ziehenden, göttlichen Wesen, die er mit seinen in der Natur empfundenen Techniken lebendig malt! Hat er göttliches Wesen im Detail aus Erfahrung geschöpft oder aus den Gefühlen, die er erscheinen lässt? Er preist Erfahrung, doch greift nach dem, was einem Menschen in zwei Leben unerreichbar bleibt! Sein Glauben gleicht einer Art von Hochmut, welchen er aus Neugierde und der Angst vor Unvollkommenheit zieht!« Romolus‘ Worte waren mir immer noch in Erinnerung präsent, obwohl mich Lästern von kleinauf schon anekelte. Ich vergaß sie nicht, weil darin wahres lag – und doch blieben es feige Worte, hinter dem Rücken eines Anderen. An Unterrichtstagen wie heute kam mir diese Unterhaltung mit ihm besonders in den Sinn. Damals hatte der Meister von Erfahrungswerten doziert und wie wichtig es wäre, sich bei der eigenen Arbeit einzig auf diese zu berufen. Man muss Romolus zugestehen, dass er nicht ganz Unrecht damit hatte, dass es schleierhaft blieb, woher der Glücksschmied all sein Wissen bezog. Viele seiner Werke waren nicht zuletzt eher Erzeugnisse seines unglaublichen Feingefühls, als Werke der Erfahrung. Ich schreckte aus der Versenkung meiner Gedanken hoch, als ich bemerkte, dass es im Klassenraum still geworden war. Der Meister las in meinen Gedanken. Sein Fokus entnahm sie mir regelrecht. Er hielt einen Moment inne, zwinkerte mir mit dem einen Auge ironisch zu und gab mir mit dem anderen zu verstehen, dass ihm meine Gedanken nicht gefallen hatten. Schließlich setzte er den Unterricht fort.
»Sich von Informationen zu berufen, bleibt Scheinwissen. Sich Informationen anderer anzueignen ist leichtsinnig und lässt den Geist hochmütig werden. Wahres Wissen ist und bleibt einzig das, was man sich selbst erarbeitet und aneignet, in eigener Erkenntnis. Einzig sie ist es, die uns tugendhaft und demütig werden lässt. Nur die leeren Köpfe blicken hoch, so als wüssten sie von den Prinzipien, denen unsere Natur folgt. Während jene, die von Bedeutung geprägt sind, sich zur Erde wenden – im Verständnis schöpferischer Natur!«
Romolus zog ein prüfendes Lächeln, meldete sich zu Wort und fragte den Meister: »Meister Glücksschmied, warum heißt es in den Schriften der katholischen Christen dann so vorwarnend, dass das Wissen Luzifers, des einst höchsten aller Sterne, ihn nicht demütig, sondern hochmütig werden ließ?«
Der Meister nickte ihm zu, lächelte seelenruhig und fuhr sich durch seinen gekämmten, nach Heublume duftenden Vollbart. Er ließ ein Momentum vergehen, in dem sich Romolus‘ gehässige Miene in ein von brennender Netzhaut und Augenringen zerfurchtes Unbehagen ummünzte; bevor er sich uns wieder zuwandte und ein Gleichnis teilte, über das er Romolus‘ Frage beantwortete. Er glich darin die angesprochene christlich-katholische Darstellung vom durch Hochmut bedingten Niederfall des Erzengels Luzifer mit seiner Lehre entgegen, die dem Verständnis der schöpferischen Natur folgte. Sinnbildlich stellte er sie mit der Erkenntnis gegenüber, dass Hochmut und Niederfall logische und im Gesetz der Natur verankerte Prinzipien seien.
»Es war einst ein Tropfen Wasser, der besessen davon war, in die Unendlichkeit des fernen Himmels aufzusteigen und dessen Rätsel zu ergründen. Seinem hohen Ziel befand sich bald alles untergeordnet; so fasste er sich den größten der ihm bekannten Sterne ins Visier und richtete sich nach diesem aus, um ihn zu erreichen. Die Wärme, welche über die Sonnenstrahlen zur Erde entsendet wurde, erwies sich für den zielstrebigen Wassertropfen als nützlich, um seiner Obsession nachzugehen. Er drang in die Gesetze der Natur ein, bediente sich an der Macht der Hitze und sollte sich bald schon in seinem Wesen ganz und gar vergessen und verloren sehen. So kondensierte der Wassertropfen, verwandelte sich zu feinem Dampf und stieg elegant in die fernen Weiten des Horizonts auf. In zunehmender Höhenlage begegnete er immer dünner werdender Kälte. Mehr und mehr erschwerte sich sein Weg, da ihm bald schon die Luft ausblieb und er sich immer weiter verdichtete. Der Leichtsinn seines eigenen Hochmuts verwandelte sich schließlich in sein Grauen! Mit banaler Endgültigkeit fiel der Tropfen im Niederschlag – als Regen – zurück auf die Erde hinab, welche ihn trocken einsog. Und so musste der einst so hohen Mutes beseelte Wassertropfen in seinem unterirdischen Ursprung ein verdammtes Maß von Ewigkeit für seine Sünde büßen.«
© Louis Eikemper 2024-05-06