Der große Mann und die Ruhe

Hannah Krahn

von Hannah Krahn

Story

Im vierten Stock, in der Wohnung ganz hinten links, wohnte seit vielen Jahren ein großer Mann.

Vor langer Zeit war er in die kleine Wohnung mit dem halbrunden Balkon gezogen; der Liebe wegen hatte es ihn damals in die Stadt verschlagen. Er müsse doch einmal im Leben den fiebrigen Herzschlag der Metropole gespürt, Konzerte besucht und Museen entdeckt haben – so hatte seine Freundin ihn damals überzeugt.

Nun, so viele Jahre später, war von der Liebe nicht mehr viel übrig; den Platz, der im Herzen des großen Mannes freigeworden war, hatte sich mit der Zeit jedoch Stück für Stück seine Wohnung erobert. Vielmehr noch der kleine, halbrunde Balkon zum Innenhof: sein Sehnsuchts- und Rückzugsort.

Nur hier, sanft behütet von seinen Pflanzen, fand der große Mann ein wenig von dem, was ihm damals mit seinem Umzug in die Stadt so schmerzlich abhanden gekommen war: die Ruhe und den Frieden, die sonst nur die unendlichen Wiesen und dichten Wälder seines Heimatortes in ihm zu wecken vermocht hatten. Diese hatte er mit jedem Kilometer, den sich der Transporter damals von seinem zu Hause entfernt hatte, hinter sich gelassen.

Wie ein Fremdkörper, der von seiner Umgebung abgestoßen wird, hatte er sich anfangs gefühlt. Zu schnell war die Stadt für ihn gewesen; zu laut. Zu flüchtig die Begegnungen. Zu eng die Straßen; zu heiß im Sommer der Beton, der sich wie ein Gewicht auf seine Brust legte und ihm das Atmen erschwerte. Einmal war es so schlimm gewesen, dass er keine andere Möglichkeit gesehen hatte, als für einige Tage zurück in die Heimat zu fahren. Die Menschen in der Stadt hatten das nicht verstanden. Doch dort, umgeben von den unendlichen Wiesen und dichten Wäldern seines Heimatortes, hatte er so frei geatmet wie lange nicht mehr.

Das war jedoch Vergangenheit. Mittlerweile waren das Treiben und der Lärm der Stadt ein fester Bestandteil im Leben des großen Mannes geworden und die Sirenen der Krankenwagen und das Beben der Fenster, wenn die Tram darunter entlang fuhr, erregten kaum mehr seine Aufmerksamkeit. Die fehlenden Wiesen und Wälder hatte er sich über die Jahre Stück für Stück auf seinem kleinen Balkon nachgebaut, dessen graue Betonwände mittlerweile hinter all dem Efeu kaum mehr zu sehen waren. Er konnte sich zwar nicht daran erinnern, wann er das letzte Mal auf einem Konzert oder im Museum gewesen war, doch auf seinem Balkon verbrachte er täglich viele Stunden. Auch hier atmete er freier, als er es anderswo in der Stadt jemals könnte.

Insgesamt mochte er unruhiger geworden sein; das Einschlafen fiel ihm nicht mehr so leicht wie früher, wenn seine Gedanken am Abend die Eindrücke des Tages zu verarbeiten suchten. Doch er war stolz darauf, wie er die Unruhe mittlerweile erfolgreich ohne die Flucht aufs Land bewältigte – das wusste er sicher, denn er war seit Jahren nicht mehr dort gewesen. Zu viel Geld und Zeit hatte er in den Ausbau seines kleinen Balkons gesteckt, den er als Ausgleich für die Tram brauchte, die unter seinem Fenster entlang fuhr.

© Hannah Krahn 2022-08-05

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