Der Haargummi meiner Oma

Magdalena Lenz-Spari

von Magdalena Lenz-Spari

Story

Bis ich 10 Jahre alt war, lebten wir im Haus meiner Oma mütterlicherseits. Mit „wir“ meine ich: meine Mutter, meinen Vater und meine zwei jüngeren Brüder. Meine Eltern bekamen drei Kinder in drei Jahren.

Ich als älteste hatte einen sehr engen Bezug zu meiner Oma. Sie war für mich Anlaufstelle, wenn etwas nicht zu meiner Zufriedenheit war. Das konnten Streitereien mit meinen Brüdern sein, Ärgernisse mit meinen Eltern oder einfach nur ein Nähe-Bedürfnis, weil sonst keiner Zeit hatte.

Manches Mal, ziemlich oft sogar, durfte ich bei meiner Oma im Erdgeschoß, in ihrem Schlafzimmer übernachten. Sie hatte zwei Betten, die man getrennt hinstellen konnte, die sie aber zusammen geschoben hatte. Die Betten hatten dreiteilige, blaue Matratzen. Am Ende des Bettes lag eine dicke, luftige Daunentuchent. So wie es damals wohl war, als ihr Mann, mein Opa, noch lebte. Er starb vor meiner Geburt, damals war meine Oma damals 45 Jahre alt.

Das Bett war zuerst dunkelbraun, später ließ sie es vom Dorf-Maler in einem kräftigen beige mit Holzmaserung streichen. Auch die zwei Kleiderschränke, die Nachkästen und der Spiegelschrank waren im gleichen Design.

Ich durfte also mit ihr in ihrem ehemaligen Ehebett schlafen. Es gab einen ganz klaren, immer gleichen Ablauf des Zu-Bett-Gehens:

Zuerst wusch sie sich in ihrem eigenen Badezimmer. Dort hatte sie eine Badewanne und ein Waschbecken. Mir kam es in dem Raum immer kalt vor. Ich wusch mich in unserem Familienbad. Danach schlüpfte ich schon unter die Bettdecke und wartete auf sie. Sie kam bald darauf ins Zimmer und setzte sich mit dem Rücken zu mir. Sie zog sich ihre Alltagskleidung aus und ihr Nachthemd an. Ich bewunderte oft, wie sie den BH unter dem Nachthemd ausziehen konnte, ohne dass sie jemals nackt war: Sie schlüpfte aus beiden Trägern und zog ihn an einem Ärmel hervor. Ihre Kleidung vom Tag, legte sie auf einen Sessel neben dem Bett.

Danach frisierte sie ihre langen, grauen Haare mit dem Kamm. Sie reichten ihr bis zum unteren Rücken. Ich bettelte oft, ihr die Haare frisieren zu dürfen. Manchmal ließ sie mich. Dann beschwerte sie sich allerdings, dass ich sie „rupfen“ würde. Ich denken, wir genossen es beide.

Nach dem Kämmen, wurde der Zopf geflochten. Unten waren ihre Haare schon ganz dünn. Alle Haare, die beim Frisieren im Kamm blieben, hob sie auf und drehte sie zu einem Faden zusammen. Damit verschloss sie dann ihren Zopf. Ich habe sie wohl nie mit einem Haargummi gesehen.

Es gab auch noch einen kleinen schwarz-weiß-Fernseher in ihrem Zimmer. Dort schauten wir manchmal eine Sendung, ehe ich sie leise beten hörte und von dem monotonen Geräusch, wohlig und geborgen, einschlief.

© Magdalena Lenz-Spari 2020-09-28