Unser Vater war wieder da!
Nachdem er knapp vor Kriegsende in russische Kriegsgefangenschaft geraten war und in einem polnischen Lager unter beinahe unmenschlichen Umständen dahinvegetierte, wurde er im Frühjahr 1946 entlassen und mit anderen Kameraden an die österreichische Grenze transportiert. Von Gmünd aus erreichte er nach tagelangem Fußmarsch den Semmering, wo er von unserem Aufenthalt in Obertraun erfuhr. Nun stand er, von meinen jüngeren Geschwistern erst gar nicht erkannt, völlig überraschend in der Hütte. Erst nach dem Freudenschrei der Mutter und der innigen Umarmung unserer Eltern erkannten wir die Situation und umringten beide in wilder Freude. Auch meine jüngste Schwester, die mein Vater noch nie gesehen hatte, hüpfte aufgeregt umher.
Unser Vater war von Beruf Malermeister. Gegen Ende der Zwanzigerjahre hatte er mit 35 Gesellen das riesige, Semmeringer Hotel Panhans in monatelanger Arbeit restauriert. Nachdem er die Rechnung gelegt hatte, wurde Österreich über Nacht von der Inflation getroffen und er hätte sich um die beträchtliche Summe einen Sack Kalk kaufen können. Es dauerte Monate, bis er den Betrieb wieder halbwegs auf die Beine stellen konnte.
Der Vater war eine Sportkanone. Mit dem Fünferbob “Parzival“ wurde er als Lenker mit seiner Mannschaft auf der Semmeringer Bobbahn mehrmals niederösterreichischer Landesmeister. 1936 trat er mit dem Viererbob “Österreich II“ bei der Winterolympiade in Garmisch-Partenkirchen an. Während eines Trainingslaufes überfuhr er in der “Bayernkurve” einen im Eis steckenden Eisenteil, der von einem zerfetzten und aus der Bahn geworfenen italienischen Bob stammte, worauf der schwere Bob aus der Bahn schleuderte, wobei mein Vater als Lenker an einen Baum prallte. Die übrige Mannschaft blieb zum Glück unverletzt. Am Tag vor dem Entscheidungsrennen bekam der Lenker des Tiroler Bobs “Österreich I” schwere Magenprobleme, daher musste mein Vater trotz Schwerzen in der Brust, diese Mannschaft übernehmen. Trotzdem er mit der Tiroler Mannschaft nicht eingespielt war, erreichte “Österreich I” den achten Platz. Nach dem Rennen brach der Vater zusammen. Am nächsten Tag stand in einigen Zeitungen: “Die Heldentat eines österreichischen Bobfahrers, der trotz drei gebrochenen Rippen an der Konkurrenz teilnahm”
1932 heiratete der Vater meine Mutter, die Tochter eines angesehenen und als Gemeindeamtsdirektor tätigen Semmeringer Bürgers. 1933 kam ich als erster von uns insgesamt 6 Geschwistern zur Welt.
Obwohl der Vater bereits im Ersten Weltkrieg als 17jähriger Freiwilliger und erstklassiger Schifahrer im Verband einer Bergführer-Sturmkompanie in den Dolomiten Dienst versah, wurde er 1944 im Alter von 47 Jahren zur Deutschen Wehrmacht einberufen und an die Ostfront versetzt.
Völlig mittellos, ohne Arbeit und körperlich geschwächt hatte er nun die Aufgabe, für eine achtköpfige Flüchtlingsfamilie zu sorgen. Und es gelang ihm!!
© Helmut Wigelbeyer 2020-11-16