von Annemarie Hülber
Zu viele Gedanken in meinem Kopf. Ich kann nicht mehr schlafen. Probleme schauen grinsend um die Ecke und rufen ‘löse uns, löse uns’. Keine Probleme, die die Welt erschüttern. Probleme, wie sie viele kennen. Für den Einzelnen, den Betroffenen wiegen sie schwer.
Der Hiatabaum steht schon, das bedeutet, es ist September. Die Tage werden merkbar kürzer. Die dunkle Jahreszeit nähert sich schnell. Bald wird es kalt und ungemütlich sein, auch wenn die steigenden Energiepreise mir heiße Schauer bescheren. Ich fürchte mich vor diesem Winter. Ist das gerade ein akuter Anfall von Herbst-Blues?
Ich stehe auf, es ist schon hell, und Gustl, der Dackel-Schnauzer-Mischling, blickt mich erwartungsvoll an. Also drehen wir unsere Morgenrunde durch die nahen Weingärten. Der Hiatabaum steht schon, das bedeutet, dass der wunderbare Herbst da ist. Es ist das Zeichen, dass die Weintrauben reif sind. Zeichen dafür, dass jetzt schöne Tage auf uns zukommen.
In meiner Kindheit haben die Hiata (Hüter) wirklich noch in den Hiatahütten (Weingartenhütten) genächtigt und die Weingärten bewacht und die Trauben vor Dieben, menschlichen und tierischen, beschützt. Das tuen sie heute nicht mehr, aber viele Bräuche haben sich erhalten. Der Hiataeinzug (Erntedankfest der Weinhaurer) Anfang November ist sogar immaterielles Kulturerbe. Mit der Pritschn (Erntekrone) ziehen die Weinhaurer in die Kirche ein. Nachher geht es zum Gstanzl singen am Marktplatz und dann zum Feiern. Da wird was los sein. Man muss Feste feiern, auch mal lustig sein, Kraft tanken, das Schöne sehen.
Die Luft ist kühl und klar bei unserem morgendlichen Spaziergang. Ein herrlicher Morgen. Schöne Wolkenhaufen sind am Himmel zu sehen. An den Weinreben hängen viele Trauben. Da kann man sich schon auf Most, Sturm und jungen Wein freuen. Das Laub wird bunt leuchten, das wird schön. In der Natur komme ich immer zur Ruhe. Mir geht es gut!
Meine Stimmung hebt sich, meine Zuversicht steigt. Kommt nur, ihr Probleme. Mein zweiter Vorname ist Terminator. Ich werde euch schon bewältigen. Ein Schritt nach dem anderen. Und über ‘schwierige Brücken’ gehe ich erst, wenn es nötig ist. Jetzt genieße ich erst einmal den Herbst. Auch im dunklen Winter gibt es Licht. Weihnachten ist so ein Ankerpunkt. Wenn ich auch nicht weiß, wo ich dieses Jahr den Christbaum hinstellen werde (das Wohnzimmer ist zum Kranken- und Pflegezimmer geworden und bietet keinen Platz mehr), wird es trotzdem gemütlich. Vor allem wird es ein gemeinsames Fest, das ist wichtig. Und wenn ich mir schon um den Standort des Christbaums Gedanken mache, kann es so schlimm nicht sein. Zu Tode gefürchtet ist auch gestorben. Es wird nicht alles gut werden, aber auch nicht alles schlecht. Also, nur Mut. Ich werde Kraft aus schönen Dingen schöpfen und kleine Glücksmomente, die es wirklich jeden Tag gibt, richtig schätzen. Und jetzt feiere ich den schönen Herbst.
© Annemarie Hülber 2022-09-02